03_Im Brunnen der Manuskripte
murmelte Mary. »Ich habe Gerüchte darüber
gehört, aber ich dachte, es wäre bloß eine dieser außenländischen Legenden. Ich vermute, dann müssen Sie auch essen,
damit Sie am Leben bleiben, nicht wahr? Nicht bloß, wenn es
die Geschichte verlangt, oder?«
»Es ist eine der größten Freuden im Leben«, erklärte ich ihr.
Ich hatte nicht die Absicht, ihr von den Nachteilen des wirklichen Lebens wie Karies, Inkontinenz oder Altersdemenz zu
erzählen. Mary lebte in einem Zeitfenster von etwa drei Jahren,
sie würde nie heiraten oder Kinder kriegen, sie alterte nicht, sie
musste nicht sterben, sie wurde nie krank, sie veränderte sich
überhaupt nicht. Dass sie resolut und stark erschien, lag nur
daran, dass sie so geschrieben war. Trotz all ihrer Qualitäten war
Mary bloß eine Kontrastfigur zu Jack Spratt, dem Privatdetektiv
in Caversham Heights, die loyale Zuhörerin, der Jack alles
erklärte, was der Leser wissen musste. Sie war das, was der
Schriftsteller eine Expositionshilfe nennt, aber ich wäre nie so
unhöflich gewesen, ihr das zu sagen.
»Ist das mein neues Zuhause?« Ich zeigte auf das zerschrammte Flugboot.
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Mary voll Stolz. »Ist es
nicht wunderbar? Eine Short Sunderland, 1943 gebaut und
zuletzt im Jahr 1968 geflogen. Ich bin gerade dabei, sie zum
Hausboot umzubauen, und Sie können gern dabei helfen. Vor
allem müssen die Bilgen ständig gelenzt werden, und wenn Sie
einmal im Monat den Motor Nummer drei laufen ließen, wäre
ich Ihnen sehr dankbar. Die Checkliste für den Start liegt auf
dem Flugdeck.«
»Äh – ja, natürlich!« stammelte ich.
»Gut. Ich habe eine kurze Inhaltsangabe der Geschichte an
den Kühlschrank geklebt, aber machen Sie sich keine Sorgen, da
wir bisher nicht gedruckt sind, können Sie so ziemlich tun, was
Sie wollen. Wenn es im Rahmen bleibt, meine ich.«
»Ja, natürlich.«
Ich dachte einen Augenblick nach.
»Ich bin ziemlich neu bei diesem Austauschprogramm«, sagte ich. »Wann wird man mich denn zur Teilnahme an der
Handlung auffordern?«
»Der Austauschbeauftragte in diesem Buch ist Wyatt, der
sagt Ihnen Bescheid. Jack Spratt wirkt am Anfang immer ein
bisschen mürrisch, aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen,
er hat ein goldenes Herz. Wenn Sie seinen Austin Allegro
fahren, müssen Sie die Kupplung fest durchtreten, ehe Sie
schalten. Seinen Kaffee trinkt er schwarz, und die Liebesgeschichte zwischen mir und Detective Constable Baker ist absolut überflüssig, ist das klar?«
»Völlig klar«, erwiderte ich. Liebesszenen wollte ich sowieso
keine spielen.
»Hat man Ihnen die nötigen Ausweise und die sonstigen Papiere gegeben?«
Ich klopfte auf meine Jackentasche, und sie gab mir einen
Schlüsselbund und einen Zettel.
»Gut. Das hier ist meine FußnotofonNummer, nur für Not-fälle. Das hier sind die Schlüssel für das Flugboot und den
BMW. Wenn so eine Flasche namens Arnold vorbeikommt,
dann sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Noch
Fragen?«
»Ich glaube, nein.«
Sie lächelte. Ein gelbes Taxi mit der Aufschrift Gattungstransfer erschien aus dem Nichts. Der Fahrer erschien ziemlich
gelangweilt, als Mary die hintere Tür öffnete.
»Dann ist ja alles in Ordnung. Es wird Ihnen hier gefallen.
Ich seh' Sie dann in einem Jahr. Bis dahin!«
Sie wandte sich dem Fahrer zu und murmelte: »Bringen Sie
mich aus diesem Buch raus!« Das Taxi und sie verblassten, und
ich blieb allein auf der staubigen Schotterstraße zurück.
Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann setzte ich
mich auf eine Bank neben einen Pflanztrog mit vertrockneten
Blumen und ließ meinen Dodo aus seiner Reisetasche heraus.
Pickwick schüttelte beleidigt ihre zerzausten Federn und blinzelte in die Sonne. Ich sah auf den See und ein paar weit entfernte Segelboote hinaus, die kaum mehr als farbige Dreiecke
waren. Dann beobachtete ich ein Schwanenpaar, das sich mit
heftigen Flügelschlägen und energischem Paddeln vom Wasser
löste und wegflog, dann aber gleich wieder landete und eine
lange Bremsspur auf dem stillen See hinterließ. Es erschien mir
ein ziemlicher Aufwand, um sich ein paar hundert Meter weit
zu bewegen.
Ich wandte mich dem Flugboot zu. Der Anstrich, der den
Rumpf bedeckte, war zum Teil abgeblättert und enthüllte die
Kennfarben längst vergessener Fluglinien. Die Plexiglasfenster
waren vom Alter getrübt, und aus den drei leeren Motorgehäu-sen hoch oben auf den Flügeln, in
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