03_Im Brunnen der Manuskripte
Küche.
Obb saß am Tisch und bemalte mit äußerster Konzentration
einen napoleonischen Kavallerieoffizier von der Größe eines
Fingerhuts. Er hatte sich in den letzten Tagen zu einem dunkelhaarigen, gutaussehenden Mann von ein Meter neunzig entwickelt. Er hatte eine tiefe Stimme und sprach sehr gemessen.
Außerdem schien er ungefähr fünfzig zu sein. Ich ahnte schon,
dass er ein Er war, hoffte aber inständig, er würde mir die
entscheidenden Merkmale seiner Identität nicht auf ähnliche
Weise zu zeigen versuchen wie Lola.
»Guten Morgen, Obb«, sagte ich. »Wollen wir frühstücken?«
Obb schrak zusammen, und der Zinnsoldat fiel auf den Boden.
»Jetzt sehen Sie mal, was Sie gemacht haben!« rief Obb, nicht
ohne hinzuzufügen: »Toast, bitte, Eier und Kaffee. Außerdem
heiß' ich nicht Obb, sondern Randolph.«
»Gratuliere«, sagte ich, aber er grunzte bloß, hob seinen Kavallerieoffizier wieder auf und pinselte weiter.
Lola kam in die Küche gehüpft, sah Randolph und blieb einen Augenblick stehen, um schüchtern ihre Fingernägel zu
betrachten. Offenbar hoffte sie, er würde sich zu ihr umsehen.
Aber das tat er nicht.
Daraufhin trat sie näher heran und sagte: »Guten Morgen,
Randolph.«
»Morgen«, grunzte er, ohne aufzusehen. »Wie hast du geschlafen?«
»Wie Blei.«
»Na ja, das ist ja nicht weiter erstaunlich bei dir.«
Die Beleidigung entging ihr glücklicherweise, und sie fuhr
fort zu plappern: »Wäre Gelb nicht noch hübscher?«
Randolph hielt inne und starrte sie an. »Die Farbe eines napoleonischen Kavallerieoffiziers ist nun mal Blau, Lola. Gelb ist
die Farbe von Senf-und Bananen.«
Sie drehte sich zu mir um, sagte unhörbar Spießer! und goss
sich eine Tasse Kaffee ein.
»Können wir nachher shoppen gehen?« fragte sie mich.
»Wenn ich schon Unterwäsche kaufen muss, kann ich gleich
noch ein bisschen Make-up mitnehmen und ein schönes Parfüm. Wir könnten zum Friseur gehen, ein paar Kleider anprobieren und uns einen richtigen Mädchen-Tag machen. Ich lade
Sie zum Lunch ein, dabei können wir ordentlich ratschen, über
unsere Liebhaber herziehen und danach ein Stündchen im
Fitness-Studio rummachen.«
»Das ist nicht so mein Ding«, sagte ich zögernd und fragte
mich, was sich St. Tabularasa wohl bei Lolas Ausbildung gedacht haben mochte und in welche Art Buch sie geschickt
werden sollte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich
mir das letzte Mal einen »Mädchen-Tag« gemacht haben könnte. Sicher nicht in diesem Jahrzehnt. Meine Klamotten kamen
meistens aus dem Versandhaus – wann hatte ich schon Zeit
zum Shoppen?
»Ach, komm!« sagte Lola. »Sie können doch mal einen Tag
freinehmen. Was haben Sie denn gestern gemacht?«
»Einen Kurs in BuchSpringen mit Hilfe von ISBN.«
»Und am Tag davor?«
»Eine Übung mit Textsieben zum Fangen von SeitenLäufern.«
»Und davor?«
»Da hab ich vergeblich nach dem Minotaurus gesucht.«
»Und genau deshalb brauchen Sie eine Pause. Wir brauchen
den Brunnen nicht mal zu verlassen – der neue Grattan-Katalog
wird gerade erstellt. Wir können trotzdem schon rein, weil ich
jemanden mit einem Teilzeitjob als TextrechtfertigungsIngenieur kenne. Bitte sagen Sie ja! Es bedeutet mir sehr viel!«
Ich seufzte. »Na schön – aber erst nach dem Mittagessen.
Heute Vormittag muss ich meine Mary-Jones-Rolle in Caversham Heights spielen.
Lola klatschte in die Hände und hüpfte auf und nieder vor
Freude. Ich musste über ihre kindliche Begeisterung lächeln.
»Du kannst auch gleich eine Größe mehr nehmen«, sagte
Randolph.
Lolas Augen verengten sich. »Was soll denn das wieder heißen?« fragte sie ihn.
»Genau das, was ich gesagt habe.«
»Dass ich fett bin?«
»Also das hast du jetzt gesagt«, erwiderte Randolph und konzentrierte sich auf seinen Zinnsoldaten.
Lola nahm ein Glas Wasser und kippte es ihm in den Schoß.
»W-wieso hast du das jetzt gemacht?« stotterte Randolph voller Empörung, sprang auf und suchte ein Handtuch.
»Um dir beizubringen«, sagte Lola und drohte ihm mit dem
Finger, »dass du nicht jeden Scheiß zu mir sagen kannst.«
Damit schwebte sie aus der Tür.
»Was hab ich denn schon gesagt?« knurrte Randolph. »Haben Sie das gesehen? Das war doch die reine Rumzickerei.«
»Ich finde, du bist noch gut weggekommen«, sagte ich.
»Wenn ich du wäre, würde ich mich entschuldigen.«
Er dachte ein bisschen nach, dann sanken seine Schultern
herab, und er ging hinter Lola her, die
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