03_Im Brunnen der Manuskripte
nickten die Männer
heftig mit meinem Kopf. Dann steckte mir der Bräutigam einen
Ring an den Finger.
»… erkläre ich euch für Mann und Frau! Sie dürfen die Braut
küssen!«
Mr Townsperson beugte sich über mich. Ich versuchte auszuweichen, wurde ihm aber entgegengeschoben, und er küsste
mich voller Gefühl auf das Heftpflaster. Ein erregtes Murmeln
ging durch die Versammlung.
Unter lebhaftem Applaus wurde ich zum Ausgang gezerrt
und mit Konfetti bestreut. Dann wurde das Hochzeitsfoto
gemacht. Zu diesem Zweck wurde das Pflaster von meinem
Mund entfernt, und ich konnte wieder laut protestieren.
»Keine erzwungene Heirat ist vom Gesetz jemals anerkannt
worden!« brüllte ich – nicht ganz zutreffenderweise. »Lasst
mich augenblicklich los, dann werde ich vielleicht darauf verzichten, euch anzuzeigen!«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs Townsperson«, sagte
Mrs Passerby zu mir. »In zehn Minuten ist alles vorbei. Wissen
Sie, wir haben hier selten Gelegenheit, eine Hochzeit zu feiern,
weil nie jemand heiratet – der Brunnen hat uns dergleichen
leider nicht zugestanden.«
»Was ist denn mit den anderen, die Sie erwähnt haben?«
fragte ich, während meine Beklommenheit wuchs. »Wo sind die
anderen Bräute, die hier gezwungen wurden zu heiraten?«
Alle sahen sehr betreten und feierlich drein, fassten sich an
den Händen und starrten zu Boden.
»Was geht hier vor? Was wird mit mir geschehen?«
Die vier Männer ließen mich los, und ich sah mich um. Der
Pfarrer war uns hinaus auf den Kirchhof gefolgt, aber diesmal
war er gar nicht fröhlich. Er sah äußerst betrübt aus, und das
war auch nur angemessen. Denn direkt vor ihm befand sich ein
frisch ausgehobenes Grab. Und es war offensichtlich für mich.
»Oh, mein Gott!« murmelte ich.
»Liebe Trauergemeinde«, begann der Pfarrer, »wir sind hier
versammelt...« Und sogleich begann die Gemeinde wieder in
ihre Taschentücher zu schniefen. Aber diesmal waren es keine
Freudentränen, sondern Tränen des Kummers.
Ich verfluchte meinen Leichtsinn. Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können? Mr Townsperson entsicherte bereits
meine Pistole. Ich sah mich verzweifelt um. Selbst wenn ich eine
Möglichkeit gefunden hätte, Miss Havisham zu alarmieren,
hätte sie es wohl kaum noch geschafft, mich zu retten.
»Mr Townsperson«, sagte ich mit leiser Stimme und sah ihm
fest in die Augen. »Mein eigener Ehemann! Sie würden Ihre
Braut an ihrem Hochzeitstag umbringen?«
Er zitterte und warf Mrs Passerby einen hastigen Blick zu.
»Ich … fürchte, ich muss, Liebling.« Er sank in sich zusammen.
»Aber warum?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
»Wir brauchen die … die –«
»Beim Großen Panjandrum, machen Sie schon, Mr
Townsperson!« rief Mrs Passerby, die bei alledem der Rädelsführer zu sein schien. »Ich brauch meinen emotionalen Fix!«
»Halt mal!« sagte ich. »Was brauchen Sie? Einen Fix?«
»Ja«, sagte Mr Townsperson verlegen. »Gefühls-Junkies nennen sie uns. Es ist nicht unsere Schuld. Wir sind alles Rohlinge
der Kategorien C-7 und D-3; wir haben keine eigenen Gefühle,
aber wir sind schlau genug, um zu wissen, was uns fehlt.«
»Wenn Sie es nicht über sich bringen, werde ich es tun!« sagte Mr Rustic und tippte meinem »Ehemann« auf den Arm.
Der riss sich los. »Sie hat einen Anspruch darauf, zu erfahren,
worum es geht. Sie ist schließlich meine Frau.« Er sah sich nach
links und rechts um.
»Reden Sie weiter!«
»Angefangen haben wir mit heiteren Zweizeilern, die einen
gewissen Reiz hatten. Das hielt aber nur ein paar Monate vor.
Bald wollten wir mehr: Freude, Lachen und Glück, so viel wir
nur kriegen konnten. Gartenpartys, wöchentliche Erntefeste
und jeden Tag dreimal Lotto reichten bald nicht mehr aus. Wir
brauchten … die harten Drogen.«
»Trauer«, murmelte Mrs Passerby, »Unglück, Sorgen, Trübsal, Verlust – wir wollten starke Gefühle. Haben Sie schon mal
On Her Majesty's Secret Service gelesen?«
Ich nickte.
»Genau das wollten wir. Erst die Hochzeit und dann der Tod
der Braut in kürzester Zeit. Himmelhoch jauchzend, zu Tode
betrübt, verstehen Sie?«
Ich musterte die erregten Rohlinge. Unfähig, aus den engen
Grenzen ihres ländlichen Idylls genug Gefühl zu erzeugen,
hatten sie eine emotionale Achterbahn eingerichtet, die aus
einer raschen Folge gewaltsamer Eheschließungen und Begräbnisse bestand. Ich betrachtete die Gräber im Kirchhof und
fragte mich, wie viele
Weitere Kostenlose Bücher