03 Nightfall - Zeiten der Finsternis
Umschnürung seiner Flügel. Die Siegel schmolzen, und die Ketten fielen klirrend auf den Marmorboden. Sie hob die Stücke auf und warf sie in die Nacht.
»Ah«, seufzte Lucien und breitete die Flügel aus. Er spannte sie an und ließ sie flattern, um ihre Stärke zu testen.
»Bist du stark genug zum Fliegen?«, fragte Hekate.
»Wenn nicht, lass mich einfach fallen.«
»Nicht gerade hilfreich«, sagte Hekate und wandte sich ab. Sie berührte Menakels wartendes Bewusstsein, und der dunkelhaarige Nephilim -Diener kam an den Wachen vorbei auf die Terrasse.
Hekate nickte in Richtung Diwan. Ohne ein Wort zu sagen ging Menakel dorthin und legte sich nieder. Sie überquerte die Terrasse, während die Augen des Nephilims jede ihrer Bewegungen in sich aufnahmen, und kniete sich neben ihn. Sie beugte sich vor, küsste ihn auf die Lippen und flüsterte: »Danke.«
»Lass dich bloß nicht erwischen«, antwortete er flüsternd.
»Werde ich nicht«, sagte sie und klang dabei selbstsicherer, als sie sich fühlte. Sie holte tief Luft und sammelte dann noch mehr nächtliche Energie, um eine weitere Sinnestäuschung zu kreieren. Einige Minuten später sah Lucien sie mit gefesselten Flügeln und dunklen Augen vom Diwan aus an.
Sie kehrte zu dem echten Lucien an der Brüstung zurück und meinte: »Wollen wir?«
Ein Lächeln verklärte seine Gesichtszüge. »Soll doch jemand versuchen, mich aufzuhalten!« Er ging zum offenen Rand der Terrasse und stürzte sich in den sternenübersäten Nachthimmel.
Hekates Herz setzte einen Schlag lang aus, als er außer Sichtweite fiel. Doch einen Augenblick später flog er nach oben. Seine falschen goldenen Flügel brausten durch die Luft.
Mit einem letzten Blick auf Menakel, der noch immer als Lucien auf dem Diwan lag, breitete auch sie ihre Flügel aus und folgte Lucien zum Tor Gehennas.
Gabriel ließ die Symphonie aus Wortgefechten im Saal hinter sich. Ihn verlangte es nach frischer Luft auf der Terrasse und nach einem Blick auf Hekates lilienweiße Flügel, die die Nacht durchschnitten.
Er fragte sich, ob sie vielleicht sogar bereits in diesem Augenblick aus Gehenna verschwand, um in die Welt der Sterblichen einzutauchen, einen durch ein Täuschungsmanöver verwandelten Samael an ihrer Seite.
Er stützte sich mit den Unterarmen auf der kühlen Steinbalustrade ab. Er hatte den Geas bemerkt, den sie um den mörderischen Aingeal gewickelt hatte, und sofort gewusst, was sie vorhatte.
Sie wollte Lilith und ihre Calon-Cyfaill suchen.
Samael hingegen würde den Erschaffer suchen und zweifelsohne auch finden. Ebenso wie der Beobachter, den Gabriel beauftragt hatte, den beiden zu folgen.
Eine andere Stimme in ihm bestand darauf, Samael und Hekate nicht entkommen zu lassen, sondern sie am Tor abzufangen und beide in den Abgrund Sheols zu werfen.
Doch Zweifel hatten seinen Geist paralysiert. Luzifer behauptete, dem Creawdwr zu folgen. Behauptete, er sei Fola Fior und Elohim. Behauptete, er sei verletzt. Aber Aufrichtigkeit hatte noch nie zu den Stärken des Morgensterns gehört.
Samael hatte erklärt, Luzifer treibe Spielchen. Das stimmte sicher. Aber diesen Vorwurf mussten sie sich alle gefallen lassen – Spielchen innerhalb von Spielchen innerhalb von Spielchen.
Wahnsinn hatte den Creawdwr nicht dazu gebracht, die Gesandten aus Gehenna zu versteinern. Nein, Gabriel war sicher, dass er das auf Geheiß Samaels getan hatte, und genauso sicher war er, dass Samael Lilith in eine Falle gelockt hatte, wohl wissend, was die Elohim erwartete, wenn sie auf das Anhrefncathl des Erschaffers antworteten.
Samael war genau dessen schuldig, wessen er Gabriel bezichtigte: einen Creawdwr seinem Willen zu unterwerfen. Aber was hoffte er zu erreichen? Plante er, Gehennas schwarzen Sternenthron zurückzugewinnen?
Wenn der Creawdwr natürlich so lange verschwunden blieb, bis Gehenna und der verräterische Samael vergangen waren, musste er sich nicht länger Gedanken über Samaels mögliche Pläne machen.
Wie erwartet, ist die Gebieterin Hekate zusammen mit dem Gefangenen Samael geflohen, meldete sich der Anführer der königlichen Garde. Soll ich ihnen folgen?
Gabriel sah in die sternenglitzernde Nacht hinaus. Eine gute Frage. Eine sehr gute Frage.
Trotz ihrer gemeinsamen Jahrhunderte, trotz der Tatsache, dass er ihr nie etwas verweigert hatte, war Hekate losgezogen und hatte Hilfe bei seinem Erzfeind gesucht – einem Aingeal , der sie trotz ihres Geas betrügen und täuschen würde –, statt einfach
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