03 - Saison der Eifersucht
Die Gassen, in die kaum ein
Strahl Sonne drang, dampften und stanken. Die Straßen wanden und bogen sich und
endeten in kleinen Gässchen, die sich wiederum ineinander zu nicht nur einem
Labyrinth, sondern zu einer ganzen Reihe von Labyrinthen verflochten. Fremde wagten
sich selten hinein. Ohne sich auszukennen, konnte man den Weg zurück nach
draußen nicht finden, und wenn man fragte, wurde man nur noch tiefer
hineingeschickt, um, vielleicht in einem finsteren Hinterhof, von einer Gruppe
abgerissener Weiber gepackt und ausgeraubt zu werden.
In den Hinterhöfen
der hohen alten Häuser häuften sich Müll, Diebesgut und alle Arten von
Speiseabfällen. Sanitäre Anlagen gab es nur in Form von Rinnsteinen und
Versitzgruben. An jeder Ecke konnte man Gin kaufen. Einige der Häuser
beherbergten »Schulen« zur Ausbildung von jungen Gaunern. Mädchen undjungen
wurden zu Taschendieben ausgebildet und weggeschickt, um Beute zu machen.
Als Lizzie und der
Marquis die Gassen entlangeilten, hörten sie im abendlichen Radau des
>Krähenhorstes< die Schreie der Kinder, die ausgepeitscht wurden, weil
sie mit leeren Händen nach Hause gekommen waren.
Harriet hatte die
Carrier Street gefunden, aber sie konnte die Nummer io nicht finden, da die
Häuser offensichtlich keine Hausnummern hatten. Sie ging auf eine Gruppe Frauen
zu - wenn man diese rotäugigen Lumpenbündel überhaupt als Frauen
bezeichnen konnte - und fragte höflich nach der Nummer 10.
»Ja, mein
Liebchen«, sagte eine, die die Anführerin der Gruppe "zu sein schien.
»Komm nur mit uns.«
Die Frauen umringten
Harriet, als die Anführerin ein übelriechendes Gässchen voranging. Es roch
selbst für Beauty, dessen Sinne von der Fülle der atembeklemmenden Gerüche
überwältigt waren, zu abstoßend. Das Gässchen war völlig dunkel.
»Wo sind wir?«
fragte Harriet ängstlich.
»Wo. du bleiben
wirst«, flüsterte ihr eine böse Stimme ins Ohr. »Packt sie.«
Eine schmierige
Hand spannte sich über Harriets Mund, und andere Hände zogen an ihren Kleidern.
Beauty, auf den die
bösen Hexen nicht geachtet hatten, legte sich entschieden ins Zeug. Mit
gefletschten Zähnen und gesträubtem Fell biß und schnappte er wütend und
aufgeregt um sich. Man hörte Schreckensschreie, und Harriet, die ihren Mund
wieder öffnen konnte, schrie ebenfalls, so laut sie konnte. Sie hielt ihr
Ridikül, das Schmuckstücke von Sarah enthielt, ganz fest. Sarah war in
Annabelles Zimmer gewesen, als sie sie an sich genommen hatte. Harriet hatte
keinen eigenen Schmuck, den sie hätte mitbringen können.
In dem düsteren Gässchen
konnte sie nur das Glitzern der Augen ihrer Angreifer erkennen und ihre
enttäuschten Flüche hören, weil Beauty unerschrocken vor seiner Herrin stand
und laut bellte - tiefe Belltöne, die selbst der Lärm, der im
>Krähenhorst< herrschte, noch übertönten.
Und dann hörte man
einen Schuss. Die Augen, die Harriet beobachteten, blitzten auf und
verschwanden - die Tiere des >Krähenhorstes< waren in ihre Höhlen
zurückgekrochen.
»Miss Metcalf!«
Harriet erkannte
Lizzies Stimme und rief: »Lizzie! Ich bin hier!«
Und da war Lizzie,
und hinter ihr war eine männliche Gestalt in Umrissen sichtbar, die langsam und
gedehnt sagte: »Was, bei allem, was heilig ist, machen Sie denn hier, Miss
Metcalf?«
»Huntingdon!«
keuchte Harriet. »Sarah und Annabelle. Das Furchtbarste ...«
»Ruhig«, unterbrach
er sie. »Wir gehen zurück zur Broad Street und ans Licht, bevor Sie sprechen.
Ich habe zwar zwei Pistolen bei mir, aber in dieser Dunkelheit könnte sich
einer von diesen Teufeln von hinten anschleichen und mir einen Schlag über den
Kopf versetzen.«
Schluchzend vor
ausgestandener Angst ließ es Harriet zu, dass er sie durch den Irrgarten, von
Gassen zurück in die Broad Street führte. Trotz ihres Kummers und Elends fragte
sie sich, wie es der Marquis fertigbrachte, den Weg zurückzufinden. Sie konnte
nicht wissen, dass seine scharfen Augen jede Wegkrümmung in dem Labyrinth
aufgenommen hatten.
»Nun, Miss
Harriet«, sagte der Marquis.
Sie zog den Brief
aus ihrem Ridikül und brachte mühsam die ganze Geschichte heraus.
Seltsamerweise dachte sie nicht daran, den Inhalt des Briefes vor ihm zu verheimlichen.
Der Marquis nahm
ihr den Brief aus der Hand und führte sie zu seiner Kutsche hinüber. An diese
gelehnt, untersuchte er den Brief beim Licht der Kutschenlampe genau.
»Meine liebe Lady«,
sagte er schließlich, »Sie sind hereingelegt worden. Kein Mensch
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