03 - Saison der Eifersucht
ohne dass ihr etwas passiert war. Schließlich gab die
Haushälterin nach, und Lizzie hüllte Kopf und Schultern in ein großes Tuch und
rannte die Außentreppe hinauf. Sie lief die Oxford Street entlang, weil es die
am besten beleuchtete Straße war, die nach Soho führte. Die städtischen Lampen
waren mit neuen Reflektoren ausgerüstet worden, um die flackernden Flammen zu
vergrößern und so etwas mehr Helligkeit zu spenden. Bisher hatten sie nur
schwach geglimmt.
Lizzie wollte
gerade in die Charles Street, die von der Oxford Street zum Soho Square führte,
einbiegen, als sie Miss Metcalf im Fenster einer vorbeifahrenden Mietdroschke
erkannte. In ihrem Gesicht lag eine so furchtbare Angst, dass Lizzie, ohne
recht nachzudenken, umkehrte und hinter der Droschke herzulaufen begann.
Als diese in die
Broad Street fuhr, begann sich Lizzie wirklich Sorgen zu machen. Es war kein
Ort für eine Lady, nicht einmal ein Ort für ihresgleichen.
Die Droschke hielt
an der Ecke Diot Street an. »Die Carrier Street ist dort vorne, Miss«, rief der
Kutscher. »Ich fahre nicht weiter, und Sie sollten auch nicht hineingehen, und
der Hund kostet extra.«
Lizzie holte die
Kutsche ein, als Harriet gerade zahlte. »Miss Metcalf!« rief sie.
Harriet wandte
Lizzie ein kalkweißes Gesicht zu und zischte: »Geh! Verlasse mich auf der
Stelle. Niemand darf dich mit mir sehen. Ich befehle dir, zu gehen.«
Nur ein ganz altes
Familienfaktotum hätte den Mut gehabt, die Entscheidung seines Herrn oder
seiner Herrin in Frage zu stellen. Lizzie versank in einen Knicks, drehte sich
um und ging weg. Beauty winselte enttäuscht.
Mit hängenden
Schultern und zögernden Schritten sah sich Lizzie nach einem anständigen
Gesicht um, um zu sehen, ob sie jemanden um Rat bitten könnte. Denn Miss
Metcalf würde niemals lebend aus dem >Krähenhorst< herauskommen.
Und dann sah sie ihn,
den Marquis of Huntingdon, der eigenhändig seine Reisekutsche vom Kutschbock
aus lenkte. Sein Kutscher saß neben ihm. Er fuhr langsam, entweder weil die
Pferde müde waren oder weil er mit seinen Gedanken nicht recht bei der Sache
war.
Lizzie glaubte nicht
an einen Zufall. Was für andere Leute ein merkwürdiges Zusammentreffen von
Umständen ist, war für Lizzie eine Fügung Gottes. Gott führte ihr den Marquis
mitten auf der Broad Street zu. Es war ein Zeichen.
Deshalb rannte
Lizzie auf die Straße und rief mit schriller Stimme: »Mylord! Mylord!«
Der, Marquis
blickte vom Kutschbock hinunter, sah Lizzie, .starrte sie überrascht an und
brachte seine Pferde zum Stehen. »Was machst du denn hier, Mädchen?« rief er
von oben.
»0 bitte, Mylord«,
rief Lizzie. Sie stand auf den Zehenspitzen, weil er so weit oben auf dem
Kutschbock zu thronen schien, »es ist die Herrin. Sie ist in den
>Krähenhorst< gegangen.«
»Verdammt!« Der
Marquis warf dem Kutscher, der neben ihm saß, die Zügel zu und sprang
leichtfüßig hinab.
»Was tut sie da?«
verlangte er zu wissen. »Welchen Weg hat sie eingeschlagen?«
»Ich habe gehört,
wie ihr der Fahrer den Weg zur Carrier Street beschrieben hat.«
»Gib mir die
Pistolen, John«, rief der Marquis seinem Kutscher zu. Die Pistolen ergreifend,
sagte er zu Lizzie: »Und du gehst besser nach Hause, kleine Lizzie.«
»Lassen Sie mich
mitkommen, Sir, Mylord«, bat Lizzie. »Miss Metcalf... Miss Metcalf ist... hat
...« Die arme Lizzie konnte keine Worte dafür finden, was Harriet dadurch, dass
sie sie einer Erziehung für wert befand, für sie getan hatte.
Der Marquis zuckte
ungeduldig mit den Schultern und machte sich mit langen Schritten auf den Weg.
Es, ist unheimlich, dachte er immer wieder. Er war von immer stärkeren Gedanken
an Harriet Metcalf gepeinigt worden, je näher er London kam. Er hatte sich
geschworen, dass er nie mehr an sie denken wollte, an sie, die seinen Antrag
abgel ehnt und den armen Gilbert zu seinem Regiment zurückgetrieben hatte. Und
nun war dieses kleine Ding inmitten der übelsten Gegend Londons neben seinen
Wagenrädern aufgetaucht, um ihm zu sagen, dass Harriet Metcalf offensichtlich
den Verstand verloren hatte und in den >Krähenhorst< gegangen war. Der
>Krähenhorst< war die Heimstätte der minderwertigsten, oft gefährlichen
Einbrecher und Diebe, das Wohnviertel der Allererbärmlichsten - Männer
und Frauen -, die zu tief gesunken waren, um noch ein normales Leben
führen zu können. Sie füllten die alten Häuser vom Dachboden bis zum Keller und
drängten sich zu sechst oder siebt in einem Raum.
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