03 - Tod im Skriptorium
allem Wärme und Schlaf. Bruder Midach, unser leitender Arzt, hat sie untersucht. Es gibt keine Anzeichen von Krankheiten bei ihnen.«
Bruder Rumann blieb vor der Tür eines zweistöckigen Gebäudes stehen, das an eine der Hauptmauern der Abtei grenzte und von der mächtigen Mittelkirche durch einen steingeplasterten Hof getrennt lag, in dessen Mitte ein Brunnen stand.
»Dies ist unser tech-óiged , unser Gästehaus, Schwester. Wir sind stolz darauf. Im Sommer kommen Besucher von überall her zu uns.«
Er riß die Tür auf wie ein Schausteller, der einen schwierigen Trick vor vielen Zuschauern vorführt, und geleitete sie in das Gebäude. Sie betraten eine große Halle, die mit Wandbehängen und Bildern geschmückt war. Eine hölzerne Treppe führte zum oberen Stock hinauf, wo der Verwalter ihnen zwei nebeneinanderliegende Zimmer anwies. Fidelma bemerkte, daß ihre Satteltaschen bereits dort waren.
»Die Zimmer werden hoffentlich bequem genug sein?« fragte Bruder Rumann und wollte schon davoneilen, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Für diesmal«, sagte er, »habe ich euer Essen der Einfachheit halber hierher bringen lassen. Von heute abend an werdet ihr die Mahlzeiten aber im Refektorium einnehmen, dem Nachbargebäude. Alle unsere Gäste speisen gewöhnlich dort.«
Fidelma erblickte auf einem Tisch Schüsseln mit dampfender Suppe, einen Holzteller mit Brot und Käse, einen Krug Wein und zwei Tonbecher. Sie spürte, wie ihr das Wasser im Munde zusammenlief.
»Das ist ausgezeichnet«, lobte sie.
»Mein Zimmer liegt unten am anderen Ende des Gästehauses«, fuhr Bruder Rumann fort. »Wenn ihr irgend etwas braucht, findet ihr mich dort. Und mit dieser Glocke«, er wies auf eine kleine bronzene Handglocke auf dem Tisch, »könnt ihr meine Helferin Schwester Necht herbeirufen. Sie ist eine unserer Novizinnen und bedient die Gäste.«
»Noch eins, bevor du gehst«, sagte Fidelma, während Bruder Rumann bereits zur Tür ging. Der füllige Mann blieb stehen und drehte sich fragend um.
»Wie viele Menschen wohnen denn so ungefähr im Gästehaus?«
»Nur ihr selbst. Ach, und dann haben wir Schwester Eisten und die Kinder vorläufig hier untergebracht«, antwortete er.
»Ich habe gehört, die Abtei hätte Hunderte von Schülern«, sagte Fidelma.
Bruder Rumann schnaufte.
»Um die macht euch keine Sorgen. Der Schlafraum der Schüler liegt auf der anderen Seite der Abtei. Wir sind natürlich eine gemischte Gemeinschaft, wie die meisten Abteien. Die männlichen Mitglieder sind bei uns in der Mehrzahl. Ist das alles, Schwester?«
»Für den Augenblick ja«, antwortete Fidelma.
Der Mönch war kaum zur Tür hinaus, als Cass alle Zurückhaltung fahren ließ und sich eine Schüssel mit Suppe heranzog.
»Mehrere hundert Schüler und Mönche und Nonnen«, stöhnte er, als Fidelma sich ebenfalls an den Tisch setzte. »Einen Mörder unter so vielen zu suchen ist, als wollte man am Strand ein bestimmtes Sandkorn finden.«
Fidelma verzog das Gesicht und führte den hölzernen Löffel zum Mund. Sie genoß die Wärme der Suppe.
»So schlecht stehen unsere Chancen vielleicht gar nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Das heißt, wenn der Mörder sich noch in der Abtei aufhält. Nach dem, was Brocc sagte, sind seit dem Mord Leute gekommen und gegangen. Wenn ich den Ehrwürdigen Dacán umgebracht hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht hiergeblieben. Aber das hinge davon ab, wer ich wäre und welches Motiv ich für den Mord hätte.«
»Der Mörder könnte in dem Glauben leben, daß er nicht gefaßt wird«, meinte Cass.
»Oder die Mörderin«, ergänzte Fidelma. »Bei allen anderen Fällen, die ich zu untersuchen hatte, gab es immer ein erkennbares Motiv, das sich einem sofort aufdrängte. Hier ist das nicht so. Merkwürdig.«
»Wie meinst du das?«
»Jemand wird tot aufgefunden. Warum? Manchmal handelt es sich um einen Raubmord. Oder die ermordete Person hatte sich verhaßt gemacht. Oder es gab einen anderen naheliegenden Grund, der als Motiv in Frage kommt. Kennen wir das Motiv, können wir uns fragen, wer am ehesten aus dem Verbrechen seinen Nutzen ziehen könnte. Hier fand ein angesehener älterer Gelehrter ein gewaltsames Ende, doch kein Motiv bietet sich an.«
»Vielleicht gab es keines? Vielleicht wurde er von einem Wahnsinnigen umgebracht und …«
Fidelma tadelte Cass sanft.
»Wahnsinn ist selbst schon ein Motiv.«
Cass schüttelte den Kopf und betrachtete traurig die leere Suppenschüssel.
»Das hat geschmeckt«,
Weitere Kostenlose Bücher