03 - Tod im Skriptorium
meinst du damit?« sprach Cass die Frage aus, die ihr auf der Zunge lag.
Brocc nickte zum Fenster hinaus.
»Seht dort hinunter, zur Mündung des Meeresarms.«
Fidelma und Cass standen auf und traten zu dem Abt. Neugierig spähten sie ihm über die Schulter auf die Stelle, die er ihnen wies. In dem Meeresarm lagen mehrere Schiffe vor Anker, darunter zwei große seegehende. Brocc zeigte auf eins der größeren Schiffe, das nahe der Ausfahrt aus der geschützten Bucht ankerte.
»Du bist ein Krieger, Cass.« Broccs Baßstimme klang düster. »Kannst du das Schiff erkennen? Du siehst, welches ich meine? Nicht das fränkische Handelsschiff, sondern das andere.«
Cass kniff die Augen zusammen.
»Es führt die Flagge Fianamails, des Königs von Laigin«, erwiderte er etwas überrascht. »Es ist ein Kriegsschiff aus Laigin.«
»Genau«, seufzte Brocc, wandte sich um und winkte sie zu ihren Stühlen zurück, während er den seinen wieder einnahm. »Es tauchte vor einer Woche hier auf. Sie haben ein Kriegsschiff hergeschickt, um mich daran zu erinnern, daß Laigin mir für den Tod Dacáns die Verantwortung zuschreibt. Es liegt dort in der Bucht, tagein, tagaus. Um die Sache klarzustellen, kam der Kapitän gleich nach der Ankunft zu mir und unterrichtete mich von den Absichten des Königs von Laigin. Seitdem ist keiner mehr von dem Schiff zur Abtei gekommen. Es liegt einfach in der Einfahrt zur Bucht und wartet – wie eine Katze auf die Maus. Wenn sie mir damit die Ruhe nehmen wollten, dann ist ihnen das gelungen. Zweifellos haben sie vor, dort zu warten, bis die Ratsversammlung des Großkönigs ihre Entscheidung trifft.«
Cass wurde rot vor Zorn.
»Das ist eine Beleidigung der Justiz«, sagte er scharf. »Das ist Einschüchterung. Das ist körperliche Bedrohung.«
»Wie ich gesagt habe, ist es eine Erinnerung daran, daß Laigin Auge um Auge, Zahn um Zahn verlangt. Was sagt die Heilige Schrift? Wenn ein Mann einem anderen ein Auge herausreißt, soll man auch ihm ein Auge ausreißen?«
»Das ist das Gesetz der Israeliten«, erklärte Fidelma. »Es ist nicht das Gesetz der fünf Königreiche.«
»Sehr richtig, Kusine. Doch wenn wir glauben sollen, daß die Israeliten das erwählte Volk Gottes sind, dann sollten wir ihrem Gesetz ebenso folgen wie ihrer Religion.«
»Theologische Debatten können wir später führen«, fuhr Cass dazwischen. »Warum machen sie dich verantwortlich, Brocc? Hast du den Ehrwürdigen Dacán umgebracht?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann hat Laigin keinen Grund, dir zu drohen.« Für Cass war der Fall ganz einfach.
Fidelma wandte sich vorwurfsvoll an ihn.
»Laigin hält sich an das Gesetz. Brocc ist hier der Abt. Er ist das Oberhaupt dieser Abtei und damit nach dem Gesetz verantwortlich für alles, was seinen Gästen zustößt. Wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Geldstrafen und Entschädigungen zu zahlen, dann muß das seine Familie tun, so lautet das Gesetz. Weil er den Eóganachta, der Herrscherfamilie von Muman, angehört, wird nun ganz Muman für die Tat haftbar gemacht. Kannst du dieser Logik folgen, Cass?«
»Aber das ist ungerecht«, protestierte Cass.
»Es ist das Gesetz«, beharrte Fidelma. »Das solltest du wissen.«
»Und oft sind Gesetz und Gerechtigkeit zwei Dinge, die nicht übereinstimmen«, bemerkte Brocc bitter. »Aber du hast richtig dargestellt, wie Laigin den Fall sieht. Es bleibt nicht viel Zeit, um eine Verteidigung vorzubereiten, bis die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara zusammentritt.«
»Dann wäre es wohl das beste«, Fidelma versuchte ihr Gähnen zu unterdrücken, »wenn du mir die wesentlichen Tatsachen mitteilst, damit ich mir überlegen kann, auf welche Art ich meine Nachforschungen betreibe.«
Abt Brocc fiel ihre Erschöpfung nicht auf. Er breitete die Arme aus zu einer beredten Geste der Verlegenheit.
»Dazu kann ich wenig sagen, Kusine. Die Tatsachen sind folgende: Der Ehrwürdige Dacán kam mit Genehmigung von König Cathal in die Abtei, um unsere Sammlung alter Bücher zu studieren. Wir haben eine große Anzahl von ›Stäben der Dichter‹, in denen im Ogham-Alphabet alte Geschichten und Sagen eingeritzt sind. Wir sind stolz auf unsere Sammlung. Es ist die beste in den fünf Königreichen. Nicht einmal in Tara findet man eine solche Sammlung.«
Fidelma teilte Broccs Stolz. Sie hatte das alte Alphabet gelernt, das der Legende nach den Iren von Ogma, dem heidnischen Gott der Literatur, geschenkt worden war. Es bestand aus einer
Weitere Kostenlose Bücher