03 - Tod im Skriptorium
prunkvollen runden Basilika von St. Johannes im Lateran aufgebahrt lag. Ein Dutzend Bischöfe und ihr Gefolge und der Heilige Vater selbst hatten den Gottesdienst gehalten.
Die dunkle, hohe Abteikirche war nicht mit dem Glanz der römischen Basilika zu vergleichen, doch eindrucksvoll war sie auch. Wandbehänge bedeckten die hohen Granitmauern, und Kerzen verbreiteten Wärme, Licht und verschiedenartige Düfte. Fidelma saß in der Bank für Ehrengäste und Cass neben ihr. Ringsum standen die Mönche, Nonnen und Schüler der Abtei, um dem verschiedenen König Cathal von Cashel die Ehre zu erweisen. Fidelma musterte die Gesichter sorgfältig, konnte aber Schwester Grella nicht entdecken.
Die Chorsänger erhoben ihre Stimmen zum Sanctus.
»Is Naofa, Naofa, Naofa Tú, a Thiarna. Dia na Slua …«
»Du bist heilig, heilig, heilig, o Herr der Heerscharen …«
Etwas ließ Fidelma quer durch das Kirchenschiff schauen, etwas wie ein sechster Sinn trieb sie dazu.
Sie blickte in die Augen von Schwester Necht, die sie wie gebannt anstarrte. Die Novizin hatte sie beo bachtet; nun senkte sie rasch den Kopf und schaute zu Boden. Fidelma wollte sich abwenden, als sie merkte, daß noch jemand starr in den Raum blickte, doch in diesem Fall war Schwester Necht selbst das Ziel und der rundgesichtige Bruder Rumann der Beobachter. Neben Rumann saß Bruder Midach und schaute ebenfalls auf die junge Novizin. Fidelma sah zu ihrer Überraschung, daß jede Spur von Fröhlichkeit aus dem Gesicht des Arztes gewichen war. Wenn Blicke töten könnten, dachte sie, dann wäre Midach bestimmt am Tod der jungen Frau schuldig. Plötzlich spürte Midach ihren Blick, zwang sich zu einem Lächeln und konzentrierte sich mit gesenkten Augen auf den Gottesdienst. Als sie Bruder Rumann noch einmal anschaute, lauschte auch der aufmerksam den Worten der Liturgie.
Fidelma fragte sich, was das alles zu bedeuten habe. Als sie wieder dem Gottesdienst zu folgen vermochte, waren die Chorsänger schon beim Agnus Dei angekommen.
In der Pause vor dem Einsatz zum A Rí an Domhnaigh – Großer Gott – war plötzlich ein seltsames Geräusch zu hören. Die Chorsänger verstummten. So wurde das Geräusch besser wahrnehmbar. Ein erschrockenes Murmeln lief durch die Menge, denn nun erkannte man deutlich das herzzerreißende Schluchzen eines Kindes.
Jeder schaute sich suchend nach dem Kind um, doch niemand fand heraus, woher das Schluchzen kam. Es schien die große Abteikirche zu durchziehen, sich an ihren Granitmauern zu brechen und widerzuhallen.
Mehrere Brüder, bei denen der Aberglaube stärker war als die Logik, sanken in die Knie.
Selbst Abt Brocc tauschte beunruhigte Blicke mit den älteren Priestern.
Fidelma spürte, wie Cass ihren Arm berührte. Der Krieger nickte zum Kirchenschiff hin, und als Fidelma seinem Blick folgte, sah sie, wie Bruder Midach rasch das Gebäude verließ.
Kurz bevor er die Tür erreichte, hörte das Weinen plötzlich auf. Alles war totenstill. Als die Tür hinter Midach zuschlug, fuhr die ganze Gemeinde zusammen.
Der Chordirigent klopfte auf sein hölzernes Pult, und die Stimmen erhoben sich nun zum A Rí an Domhnaigh , zögernd zuerst, doch dann mit wachsender Zuversicht und Stärke.
Der Gottesdienst verlief ohne weiteren Zwischenfall. Abt Brocc sprach beredt und voller Trauer über den Tod des alten Königs durch die Gelbe Pest, aber freudig über die Einführung des neuen Königs und erflehte den Segen Christi, Seiner Apostel und aller Heiligen der fünf Königreiche für die künftige Wohlfahrt des Königreichs und für eine weise Regierung des neuen Herrschers Colgú.
Als sich die Gemeinde nach dem Schlußsegen langsam zerstreute, sagte Fidelma zu Cass, sie würde später mit ihm reden, und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die andere Seite des Kirchenschiffs, dorthin, wo sie Schwester Necht gesehen hatte. Doch als sie anlangte, war Necht bereits verschwunden.
Fidelma unterdrückte einen verärgerten Seufzer und wandte sich zur nächsten Tür, die auf den Hof gegenüber den mächtigen Speichern der Abtei hinausführte. Die Nacht wurde vom unruhigen Licht vieler Laternen erhellt, die man wohl angezündet hatte, damit alle ihren Weg zu den verschiedenen Schlafsälen fanden.
Ihren Gedanken nachhängend, entschloß sich Fidelma, nicht sofort zum Gästehaus zurückzugehen, sondern dem Pfad zum Kräutergarten zu folgen, den Bruder Ségán ihr gezeigt hatte. Sie wollte allein sein und nachdenken, und dafür schien ihr
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