0309 - Der Horror-Alchimist
Alkohol, der ihn zu diesem Verhalten zwang?
Johannes dachte nicht darüber nach.
Wieder zerschnitt eine sinnlose Aneinanderreihung von Lauten die Luft!
»Sto bruciando! Mio Dio, che cosa mit sta accadento? Aaaaaah! Dove sono? Ma di chi é questo corpo? E possibile che é vero… ?«
Johannes’ Gesichtszüge froren ein.
Was - war das für eine Sprache? War es überhaupt eine solche? Und die Stimme… Wieso klang die Stimme des Meisters plötzlich so… anders? Fremd!
Panisches Entsetzen griff nach dem Schwachkopf. Und als sich Kellermann dann auch noch langsam, zu ihm umdrehte, nachdem er ihm die ganze Zeit den Rücken gekehrt hatte und ihn aus blutunterlaufenen Augen anstierte, verlor Johannes völlig die Fassung. Nicht Mut, nein, eisige Angst trieb ihn schließlich dazu, schreiend auf Kellermann zuzurennen, ihn beiseite zu stoßen und danach keuchend und schwitzend die Treppe hinauf ins Freie zu fliehen!
Er ahnte nicht, welch furchtbaren Kampf sein Meister unten im Keller gerade ausfocht - und verlor… !
***
Frankfurt, 191 Jahre später…
Das Licht wurde langsam hochgedimmt. Gemurmel brandete auf, und gepolsterte Sitze klappten geräuschvoll zurück, während vorn auf der Leinwand der Abspann des Filmes lief.
Susanne Steiner erhob sich ebenfalls und versuchte, das beklemmende Gefühl zu verscheuchen, das der schlicht, aber wirkungsvoll inszenierte Streifen bei ihr hinterlassen hatte.
Kein amerikanischer Action-Thriller nach bewährtem Muster, sondern ein stiller, durch seine ausdrucksvollen Bilder lebender Film, der nur an diesem einen Tag in dem Programmkino wiederholt wurde: Werner Herzogs Frühwerk »Kaspar Hauser«…
Susanne ging mechanisch den halbdunklen Korridor entlang, der zum Ausgang führte. In Gedanken war sie immer noch bei der Handlung, die sie tief beeindruckt hatte. Die Story eines jungen Mannes, der 1828 als ungefähr Sechzehnjähriger praktisch aus dem Nichts heraus in Nürnberg aufgetaucht war: ein Mensch ohne Vergangenheit, um den sich bald die phantastischsten Legenden gebildet hatten, wozu sein mysteriöser Tod fünf Jahre nach seinem Auftauchen kräftig beigetragen hatte…
Das Mädchen erreichte die gläserne Schwingtür, die hinaus auf die naßglänzende Straße führte. Es hatte geregnet.
Susanne schlug den Kragen ihrer Lederjacke hoch, als sie ins Freie trat.
Erst jetzt kam sie einigermaßen wieder zu sich. Der ernüchternde abendliche Stadtverkehr ließ keine Zeit zum Träumen.
Susanne sah auf ihre Uhr.
Kurz vor Elf. Der Film hatte mit einiger Verspätung begonnen. Aber das störte sie nicht weiter. Morgen war ihr freier Tag. Sie überlegte, ob sie noch ein Lokal hier am Stadtrand aufsuchen sollte. Eine kleine, gemütliche Kneipe…
Nein, entschied sie dann jedoch. Lieber nach Hause. Sie hatte noch eine gute Flasche Rotwein im Kühlschrank. Die zusammen mit einem guten Buch versprach einen gelungenen Abschluß des Abends. Dabei konnte sie vielleicht sogar vergessen, daß Schluß mit Peter war…
Susanne beschleunigte ihre Schritte.
Allmählich ließ der Verkehr rings um sie nach, als sie etwas abseits gelegene Gehwege benutzte, um ihr kleines Appartement zu erreichen. Sie hätte auch eine belebtere Strecke wählen können, aber diese hier war kürzer, und sie wollte so rasch wie möglich heim. Außerdem fürchtete sie sich vor nichts und niemand. Sie glaubte sich jeder Situation gewachsen, die sich rational bewältigen ließ.
Rational…
Sie ahnte nicht, daß das, was sie auf dem Nachhauseweg ereilen würde, nicht mit nüchternem Verstand erklärbar war.
Sie dachte nicht im Traum daran, daß sie in wenigen Minuten tot sein würde…
***
Irgendwo schrillte eine Werkssirene wie ein fernes Nebelhorn und mahnte zur Arbeitsaufnahme. Die Luft war von einem Dunstvorhang aus Myriaden winziger Wassertröpfchen durchwoben und legte sich schwer auf Atemwege und Gemüter.
Der Uhr nach war es halb Sieben in der Frühe, als Hartlaub den beigegrünen Opel Ascona mit müdem Schwung verließ, die Beine ausschüttelte und einen skeptischen Blick zum verhangenen Himmel warf.
»Petrus scheint unter die Regenmacher gegangen zu sein«, knurrte er unfreundlich und stapfte dann mißmutig zum nur wenige Meter entfernten Fundort der Mädchenleiche.
Schaf erwartete ihn bereits.
Hartlaubs Assistent stand etwas abseits des emsigen Ameisenstaates, der dabei war, die Spuren zu sichern. Er sah übernächtigt aus.
Hartlaub fragte sich, aus welchem fremden Bett er wohl gefallen und
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