031 - Die Stunde der Ameisen
wenn wir sie in unserer Mitte behalten. Bist du sicher, daß sie von den Winkler-Forcas' beeinflußt wurde, Michael?«
»Wir haben keinen echten Beweis dafür, aber alles deutet darauf hin. Wie es aussieht, hindert eine magische Sperre sie am Sprechen. Wir haben versucht, diese zu durchbrechen, doch es ist uns nicht gelungen. Der Zauber ist zu mächtig.«
»Wir sollten es morgen noch mal probieren«, sagte Ingvar. »Wenn wir die Sperre nicht lösen können, dann sehe ich nur eine Möglichkeit …«
Ich schloß die Augen. Es war klar, daß meine Familie es sich einfach nicht leisten konnte, mich in ihrer Mitte zu behalten, wenn ich eine Verräterin war und mich jederzeit gegen sie stellen konnte.
Es wurde nicht mehr gesprochen, da einige Bedienstete das Essen servierten. Sie stellten Silberplatten auf den Tisch. Es gab kaltes Huhn und Braten sowie unzählige Sorten Wurst und Käse. Dazu wurde kräftig schmeckender Landwein getrunken. Anfangs war mein Magen wie zugeschnürt. Nur mit Mühe brachte ich einige Bissen hinunter. Doch dann schaltete ich völlig ab und verdrängte meine düsteren Gedanken. Ich trank zwei Gläser Wein, der mir nach kurzer Zeit in den Kopf stieg.
Nach dem Essen wurde ich in ein kleines Zimmer gebracht.
Anfangs war es mir immer unangenehm gewesen, mich vor dem Hüter des Hauses auszuziehen, doch jetzt war ich daran gewöhnt. Ich schlüpfte aus meinen Kleidern und kroch ins Bett. Nachdem ich die Nachttischlampe gelöscht hatte, drehte ich mich zur Seite. Es dauerte lange, bis ich endlich eingeschlafen war.
Am nächsten Tag setzten wir die Reise fort. Wir fuhren die Bundesstraße Nr. 80 entlang. Links und rechts der Straße waren hohe Berge zu sehen. Es war ein wildes, rauhes Land. Die Abruzzer stammten aus verschiedenen italienischen Volksstämmen. Die Abgelegenheit ihrer Siedlungen hatte zu einer Rückständigkeit geführt, die bis in die heutige Zeit spürbar war. Hier gab es noch winzige Dörfer, die nie ein Tourist betrat. Die meisten lagen in schwer zu erreichenden Schluchten, in die man nur zu Fuß oder mit dem Esel gelangen konnte.
Das war das Land, in dem sich mein Onkel Ingvar niedergelassen hatte, nachdem er zusammen mit meinem Vater aus Rußland geflohen war. Sie waren zunächst beide nach Wien gereist, wo es ihnen gelungen war, die Herrschaft der Familie Lexas zu brechen. Doch Onkel Ingvar hielt es nicht in der Großstadt. Er lernte Bianca kennen, die aus einer kleinen römischen Familie ohne jeden Einfluß stammte, und verstand sich ausgezeichnet mit ihr. Sie zogen anfangs nach Rom, wo sie bei einem teuflischen Sabbat ihre Hochzeit feierten und dabei die Gebote, die ihnen eine Dämonenehe auferlegte, vollständig anerkannten. Zum Beispiel ist die Beendigung einer solchen Beziehung jederzeit möglich, solange es im gegenseitigen Einvernehmen geschieht. Wird jedoch ein Dämon im Haß verlassen, dann bringt das fast immer eine blutige Fehde mit sich, bei der einer der beiden Gegner auf der Strecke bleibt. Allerdings hätten weder Onkel Ingvar noch Bianca von sich aus je eine Trennung erwogen. Sie hatten zwei Söhne und zwei Töchter, mit denen sie sehr zufrieden waren.
Ich brütete noch immer vor mich hin. Nur gelegentlich hob ich den Blick und musterte die hohen Berge. Wir fuhren jetzt eine schmale Straße entlang, die aus unzähligen Windungen zu bestehen schien. Unser Ziel war der kleine Ort Pietracamela. Von dort führte ein enger Weg zur grünen Hochfläche der Prati di Tivo, wo man zum Corno Grande und Corno Piccolo aufsteigen konnte. Im Winter war dies ein Skigebiet, doch im Frühling verirrten sich kaum Touristen hierher.
Unser Auftauchen in dem kleinen Ort rief kein Erstaunen hervor. Ingvar Zamis war unter den Dorfbewohnern eine angesehene Persönlichkeit.
Wir ließen die Autos stehen und gingen zu Fuß weiter. Nach wenigen Schritten erreichen wir einen wenig begangenen, schmalen Pfad, der steil durch eine zerklüftete Schlucht führte. Nach etwa einem Kilometer weitete sich die Schlucht, und ein breites Tal lag vor uns. Weit in der Ferne sah ich eine große Schafherde und dann auch das Kastell meines Onkels. Es stand auf einer steilen Anhöhe und besaß annähernd die Farbe der umliegenden Berge. Man mußte ganz genau hinsehen, um es zu erkennen.
Das Castello della Malizia war vor mehr als vierhundert Jahren erbaut worden. Es war schon immer im Besitz von Dämonen gewesen. Der Bau war achteckig angelegt und hatte einen Innenhof und oktagonale Türme an den
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