0315 - Wenn der Totenvogel schreit
Horror-Oma hielt sich tapfer. »Eigentlich habe ich die Vögel immer geliebt, mittlerweile werden sie mir unsympathisch. John, mein Junge, lass dir etwas einfallen.«
»Sehr wohl, Madam!«
Ich schaute auf das Kreuz. Dabei überlegte ich, ob es Sinn hatte, es zu aktivieren.
Das Silber reagierte. Es schien in Wellen zu laufen, denn die Ströme des Bösen verschonten auch das Kreuz nicht.
»Ich werde aussteigen«, sagte ich leise.
»Was?«
»Siehst du eine andere Möglichkeit?«
»Nein, aber das andere wäre Selbstmord.«
»Wir können nicht bis in alle Ewigkeiten hier sitzen bleiben, Sarah. Es muss etwas geschehen.«
Und es geschah etwas.
Wer oder was daran die Schuld trug, konnte ich nicht sagen. Jedenfalls geriet in die Masse der Vögel Bewegung. So schnell, wie sie gekommen waren, so rasch verschwanden sie auch wieder. Plötzlich wurde es wieder hell im Wagen. Wir sahen die dunklen Schwärme in den Himmel steigen und oberhalb der dunklen Baumspitzen verschwinden.
»Das war’s dann wohl«, sagte ich zu meiner Begleiterin.
Sarah Goldwyn atmete tief aus. »Meine Wünsche haben wohl nicht geholfen«, bemerkte sie. »Dein Kreuz vielleicht?«
»Kann ich mir schlecht vorstellen.«
»Was war es dann?«
»Vielleicht sollte das Auftauchen der Vögel eine Warnung gewesen sein. Rechnen muss man mit allem.«
»Von wem und an wen?«
»Von dem großen Unbekannten an uns.«
»Der Baron«, spann Lady Sarah den Faden weiter.
»Möglich.«
Mrs. Goldwyn nahm die Brille ab. »Es wird interessant sein, ihn einmal kennenzulernen.«
»Wieso?«
»Ich bleibe weiter dabei.« Die Horror-Oma lachte. »Oder glaubst du im Ernst, dass mich ein paar Krähen abschrecken können. Zu mir hat mal ein junger Flegel Nebelkrähe gesagt. Jetzt werde ich denen mal zeigen, wozu eine Nebelkrähe in der Lage ist. Junge, öffne deine Tür, schließ den Wagen ab und bereite dich auf einen kleinen Fußmarsch vor.«
»Wenn es sein muss«, stöhnte ich ergeben.
»Oder hast du einen Hubschrauber?« Ich deutete auf das Telefon.
»Man könnte ihn ja anfordern.«
»Bei der frischen Luft tut ein Fußmarsch gut.«
Ich hatte schon zum Hörer gegriffen, sah den bösen Blick der Lady Sarah und beruhigte sie. »Keine Bange, meine Liebe, ich informiere nur Suko. Allmählich wird mir die Sache unheimlich.«
Suko meldete sich nicht. Na ja, heute war Samstag. Da hatte ihn Shao sicherlich mit in die Stadt zum Einkaufen geschleift. Schließlich lag die neue Sommergarderobe schon in den Schaufenstern.
Sollte ich Sir James anrufen?
Ich ließ es bleiben.
Lady Sarah war schon ausgestiegen. Sie stand neben dem Wagen, atmete die kalte Luft ein und schaute in den blassen Himmel hoch.
Krähen sah sie keine mehr.
»Hoffen wir, dass es so bleibt«, sagte ich, als ich neben ihr stand und ihr anschließend half, über die Zweige zu klettern. Sarah Goldwyn hielt sich gut.
Beide besaßen wir nicht die idealen Wanderschuhe. Aber das machte uns nichts.
Bis zum Wohnsitz des Barons war es sicherlich nicht mehr weit.
Und auf den Knaben war ich gespannt…
***
Lucy Finley rannte die Stufen der Treppe hoch, während ihr Mann mit offenem Mund auf der Stelle stand und nichts tat.
Jeff schrie noch immer. »Seht ihr denn nicht? Das ist der Totenvogel. Ich kann ihn genau erkennen. Er ist es. Mummy, Mummy, bring mich weg, das ist der Vogel.«
Der Junge war wie von Sinnen und kaum zu beruhigen. Lucy musste ihn schon ein paar mal schütteln, bevor sich Jeff weinend gegen sie presste und ihre Hüften mit seinen kleinen Armen umschlang.
Der Baron hob die Schultern. »Was hat das Kind?« fragte er verwundert. »Ist er nicht normal oder…«
»Doch, mein Junge ist normal!« rief Lucy hart. »Aber er hat den Totenvogel gesehen, dessen Existenz Sie ja abstreiten, Baron.«
»Das tue ich auch nach wie vor.«
»Hat Ihnen die Reaktion des Kleinen nicht gereicht?«
»Nein. Ich empfand sie als äußerst seltsam, mich als den Totenvogel zu bezeichnen. Mir scheint, dass Ihr Kind ein wenig neurotisch reagiert. Sie sollten es einmal mit einem Arzt versuchen.«
»Das können Sie uns überlassen, Baron.«
Der Duke of Hanlock hob die dunklen Augenbrauen, bevor er sich seine Mütze auf den Kopf setzte und sich an seinen Mitarbeiter wandte. »Fahren wir jetzt?«
Harry fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er warf Lucy einen fragenden Blick zu.
Sie nickte. »Fahr ruhig«, sagte sie. »Ich passe auf Jeffy auf. Deine Familie geht dir ja nicht…« Sie schluchzte auf. Ihre weiteren
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