0315 - Wenn der Totenvogel schreit
es den Totenvogel. Wer seinen Schrei hört, ist verloren. Willst du ihn hören, alte Frau?«
Die Horror-Oma schluckte. Ihr war klar, dass der andere nicht bluffte. Das hatte er nicht nötig.
»Nein, ich verzichte!«
Wieder vernahm Sarah Goldwyn ein Lachen, das so gar nichts Menschliches an sich hatte. »Verzichten, alte Frau?« Der Baron kam einen Schritt vor. »Du wirst nicht verzichten können, denn du sollst den Schrei hören, damit du weißt, was dir bevorsteht. Um deinen Begleiter kümmere ich mich persönlich. Für dich habe ich eine andere Todesart ausgesucht. Ich hätte dich sterben lassen können wie Ernest Ragg. Er hat auch nicht an den Totenvogel geglaubt, doch er sah seinen Schatten. Wer von dem Schatten des Totenvogels berührt wird, ist verloren. Herzschlag, diagnostizierte man bei ihm. Du wirst auf eine andere Weise vom Leben in den Tod befördert. Schau dich um. Sieh dir meine ausgestopften gefiederten Freunde doch einmal an. Sie alle gehorchen mir, denn sie alle leben, sogar die Köpfe mit den bösen Augen. Du kannst dir einen Vogel aussuchen. Welcher von ihnen soll dich töten? Sag es.«
Lady Sarah schüttelte den Kopf. Sie blieb stumm, denn sie wusste nicht, was sie in diesen Augenblicken erwidern sollte.
»Kannst du dich nicht entscheiden?«
»Mann, Hanlock, machen Sie keinen Unsinn. Sie können doch nicht schon wieder morden? Was soll das alles?«
»Die Legende!« flüsterte der dunkel gekleidete Baron heiser. »Die Legende muss erfüllt werden. So steht es geschrieben. Die Leute brauchen den Todesvogel. Sie haben so viel über ihn geschrieben, deshalb will ich sie auch nicht enttäuschen. Verstehen Sie?«
»Nie.«
»Ich sehe deine Angst, alte Frau. Du hast das Leben hinter dir. Du brauchst keine Furcht mehr zu haben, die Hölle wird dich mit offenen Armen empfangen. Mit offenen Armen, sage ich dir. Also, welcher Vogel soll zu deinem Mörder werden?«
»Ich sagte doch…«
»Schweig!« schrie der Duke. »Da du mein Spiel nicht mitmachen willst, diktiere ich dir die Bedingungen. Alle!« stieß er rau und gleichzeitig lachend hervor. »Alle Vögel werden sich auf dich stürzen und dich vernichten. Hast du gehört? Alle!«
»Du hast laut genug gesprochen, Sohn der Hölle!«
Der Baron nickte, deutete eine spöttische Verbeugung an, zog sich dann zurück und schloss die Tür.
Im anderen Raum hörte Sarah Goldwyn noch sein krächzendes Gelächter. Eine Mischung aus Schadenfreude und dem reinen Triumph.
Jetzt war sie allein mit den ausgestopften, aber lebenden Bestien.
Untote Vögel, gefährlich, unheimlich und tödlich.
Lady Sarah wich zurück. Sie wusste nur nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Alle Seiten waren ihr versperrt. Überall lauerte die mörderische Gefahr.
An den Seiten, vorn und auch in ihrem Rücken.
Dennoch schaute sie zur Tür.
Darüber hockte der Adler.
Noch als stummer, gefährlicher Wächter, mit seinen kristallklaren Augen, die das Opfer keinen Moment aus dem Blickfeld ließen und es Sarah Goldwyn vorkam, als würde der Blick sie bis auf die Knochen sezieren.
Kein Vogel befand sich in der Luft. Sie wusste aber, dass diese sofort starten würden, wenn sie nur eine im Sinne der dämonischen Vögel falsche Bewegung machte.
Auf Sarahs Rücken kribbelte es. Sie vernahm auch wieder dieses heftige Flattern, und jedesmal, wenn der Flügel des von ihr erwischten Falken auf den Boden schlug, kam es ihr vor wie das Hämmern einer geheimnisvollen Todestrommel.
Sie musste hier raus.
Ihr Blick irrte weiter.
Auch ein dicker, ausgestopfter Kolkrabe stach ihr ins Auge. Sein Blick war ebenso kalt und herzlos. Langsam bewegte er seine rechte Kralle, als suchte er noch einen besseren Stand, um anschließend starten zu können.
Lady Sarah fühlte die arge Bedrängnis. Es fiel ihr immer schwerer, Atem zu holen. Für sie wurde die Luft in diesem Raum dichter und schien sich zu verflüssigen.
Sollte der verfluchte Baron letztendlich recht behalten? War tatsächlich ihre letzte Stunde gekommen?
Der Rabe öffnete den Schnabel. Eine schmale Zunge schnellte hervor.
Dann startete er.
Er war schnell, Lady Sarah konnte nicht ausweichen, sie hörte das laute Flattern der Flügel, und im nächsten Augenblick war der Rabe dicht vor ihrem Gesicht.
Er hackte zu.
Scharf und beißend war der Schmerz, als die beiden Schnabelhälften ihre Wange trafen und dort einen Riss hinterliessen. Warm strömte das Blut hervor, rann an der Wange entlang, aber Lady Sarah hatte keine Zeit,
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