0315 - Wenn der Totenvogel schreit
nach vorn und wusste nicht, was sie machen sollte. Alles war so ungewohnt, so anders, nicht voraussehbar…
Die Krähen nahmen ihr die Entscheidung ab.
Nicht einzeln flogen sie weg, sondern gemeinsam. Die aus Körpern bestehende schwarze Schnur befand sich plötzlich nicht mehr auf der grauen Straßendecke, sie schwang in die Höhe, ihr Ende peitschte zusammen wie ein hastig geworfenes Lasso, um anschließend geschickt und sich dabei windend zwischen den Bäumen zu verschwinden, ohne dass Äste oder Zweige berührt wurden.
Lucy Finley saß hinter dem Lenkrad, schaute nach vorn und wusste nicht, ob sie nun träumte oder wachte. Sie wischte über ihre Augen, spürte Feuchtigkeit und dachte sofort an Tränen.
Nasse Flecken blieben auf ihren Wangen zurück. Sie war nicht einmal in der Lage, den kleinen Wagen zu starten. Zunächst musste sie die Überraschung verdauen.
Tief atmete sie aus. Ihre zitternden Hände näherten sich dem steckenden Zündschlüssel, als ihr einfiel, dass der Motor noch lief.
Aber so durcheinander war sie inzwischen.
Nur sehr langsam rollte sie an, als hätte sie Angst, ein Stück weiter die nächste Vogelschnur zu entdecken. Das war nicht der Fall. Lucy konnte in die Kurve einfahren, aber sie sah das nächste Hindernis.
Auf der Straße stand ein Wagen.
Es war ein Bentley, und sein Lack schimmerte silbergrau. Ein wenig schräg versetzt zum linken Rand der Fahrbahn hin stand der Wagen, dennoch war der Platz groß genug, um den kleineren Morris vorbeilenken zu können.
Ein Irrtum, wie die Frau beim Näherkommen feststellen musste, denn der Bentley war nicht weitergefahren, weil ein Hindernis in Form eines sehr starken Astes die Fahrbahn blockierte.
Da kam Lucy Finley auch nicht vorbei.
Jetzt kannte Lucy den Grund, weshalb der Wagen angehalten worden war. Auch sie musste, wenn sie ihr Ziel erreichen wollte, zu Fuß weiter. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie stieg aus, hüllte sich in den Mantel und warf einen Blick in den Bentley.
Er war von seinem Fahrer verlassen worden, aber die Frau sah auf dem Rücksitz etwas anderes.
Eine tote Krähe.
Irgendein Gegenstand musste sie zerfetzt haben, denn Teile des Gefieders lagen verstreut in der näheren Umgebung des Vogels.
Lucy schüttelte sich vor dem Anblick. Die Augen waren nicht zerstört worden. Das Tier lag so, dass die Frau die beiden wie Glas wirkenden Kreise im Kopf des toten Vogels sehen konnte.
Sie fürchtete sich. Gleichzeitig stellte sie sich die Frage, wie der Vogel in den Bentley gekommen war. Das Fahrzeug war verschlossen und unbeschädigt. Lucy nahm sich nicht die Zeit, näher darüber nachzudenken. Ihr Ziel war wichtiger.
Sie hatte die ihr auf der Fahrt erlebten Ereignisse genau registriert und nicht vergessen. Da braute sich etwas Fürchterliches zusammen, eine unheimliche Sache, die irgendwie mit dem geheimnisvollen Totenvogel zusammenhing.
Krähen, die auf der Straße saßen, eine tote Krähe im Auto, der nächtliche Schrei des unheimlichen Vogels, all dies kam Lucy wie ein Karussell des Schreckens vor.
In dessen Mittelpunkt der Baron stand.
Bestimmt hatte sich Jeff nicht getäuscht. Der Junge musste etwas wahrgenommen, zumindest geahnt haben, und Lucy dachte wieder an ihren Mann, der dem Baron gefolgt war wie ein Sklave seinem Herrn.
»Nein, Hanlock«, flüsterte sie, »du bekommst ihn nicht. Ich werde um ihn kämpfen, das schwöre ich dir.« Niemand ausser ihr hatte die Worte vernommen. Sie hatte sie sagen müssen, um sich selbst zu fordern und um neue Kraft zu tanken.
Den starken Ast, der schon fast einem Baumstamm glich, konnte sie nicht zur Seite schieben und überkletterte ihn. Ein paarmal rutschte sie dabei aus und hatte es schließlich geschafft, das Hindernis zu überwinden.
Auf der anderen Seite blieb sie für einen Moment stehen und sorgte dafür, dass sich ihr Atem beruhigte.
Der Weg war ihr eigentlich vertraut, an diesem Tag kam er ihr so fremd, so kalt und beklemmend vor. Die Kälte hatte nichts mit den tieferen Temperaturen zu tun, es war die Angst, die Lucy Finley so fühlen ließ. Sie hatte sich vorgenommen, ihren Mann aus dem Wohnsitz des Barons herauszuholen, und diesen Vorsatz wollte sie auch beibehalten. Koste es, was es wolle.
Deshalb lief sie schnell, um keine Zeit zu verlieren. Jede Sekunde zählte für sie.
Stossweise drang der Atem aus ihrem Mund. Und mit jedem Atemstoß erschien auch eine grauweiße Wolke, die vor den Lippen für einen Moment stehenblieb, bevor der nächste Atemzug
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