0315 - Wenn der Totenvogel schreit
aufatmete.
Das war geschafft.
Zwei Schritte ging ich nach rechts, bückte mich und hob meine kleine Lampe auf.
Noch einmal rekapitulierte ich. Mein Gefängnis war ein gewaltiger Keller, in dem nicht nur ein Netz unter der Decke hing, sondern auch ein Baum wuchs sowie ein Sarg vorhanden war. Für den Sarg besaß ich noch so etwas wie eine Erklärung, aber wie kam der Baum in den Keller?
Allerdings war der Sarg besetzt.
In ihm lag der Baron!
***
Lady Sarah wusste nicht, wer ihr geheimnisvoller Helfer war, für sie allein zählte, dass sie noch lebte, und als die kalte Luft ihr Gesicht traf, wusste sie, dass sie der Retter aus dem Haus gezogen hatte.
Noch hielt er sie unter, musste die Horror-Oma aber sehr bald loslassen, und Lady Sarah fiel dicht hinter der Schwelle auf die Steine des Absatzes, der sich kurz vor der Treppe befand.
Dort blieb sie liegen.
Sie spürte jetzt, da die große Nervenbelastung abklang, wieder die Schmerzen im Gesicht. An der Wange war sie von dem Schnabelhieb getroffen worden. Zudem blutete die Wunde stark. Instinktiv presste Lady Sarah ihre Hand dagegen, bevor sie den Kopf zur Seite drehte, um sich ihren Retter anzuschauen.
Sie hatte den Mann noch nie gesehen!
Lady Sarah war von einem ihr völlig Fremden aus dem Haus gezogen worden. Er stand etwa zwei Schritte von ihr entfernt. Breitbeinig hatte er sich aufgebaut. Ein kantiger Typ in dicker Winterjacke und einer Hose aus rauem Stoff. Das Haar wuchs wirr auf seinem Kopf, und mit beiden Fäusten hielt er eine Waffe umklammert.
Die Horror-Oma kannte sich mit Waffen jeglicher Art gut aus. Sie konnte unterscheiden, ob es nun ein Gewehr, ein Karabiner oder eine Jagdflinte war.
Der Unbekannte neben ihr trug keine dieser Waffen bei sich, sondern eine doppelläufige Schrotflinte.
Einmal hatte er bereits geschossen. Jetzt wurde Lady Sarah auch klar, weshalb sie das Donnern und auch den Blitz gehört und gesehen hatte. Schrotflinten besaßen, aus kurzer Distanz abgefeuert, eine verheerende Wirkung.
Der Mann warf Mrs. Goldwyn einen raschen Blick zu. »Laufen Sie weg, die kommen!«
»Nein, ich…« Die nächsten Worte verschluckte Lady Sarah, denn sie sah den gefährlichsten der ausgestopften, aber dennoch lebenden Vögel, wie er das Haus verließ.
Es war der Adler.
Seine Flügel hatte er nicht ganz ausbreiten können. Die Türöffnung war einfach zu schmal.
Für die Länge eines Gedankenblitzes verzerrte sich das Gesicht des Waffenträgers, dann schoss er zum zweitenmal.
Wieder fuhr eine armlange Feuerlohe aus der Mündung, begleitet von einem mörderischen Donnern, und die geballte Ladung aus Schrot jagte aus dem Rohr.
Der Adler war nicht zu verfehlen.
Das Zeug prasselte in seinen Körper, die Flamme sengte ihn noch an. Beide Menschen sahen, wie er mit den Flügeln schlug, der Körper nachzuckte und hofften, dass er erledigt war.
Aber der König der Vögel gab nicht auf. Er kämpfte. Eine Schrotladung konnte sein untotes Leben nicht zerstören, und seine linke Schwinge erwischte den Mann.
Es war kein anderer als Harry Finley. Für einen Moment gab er nicht acht, die Schwinge schlug seitlich gegen seinen Schädel, und der harte Treffer schleuderte ihn bis an die Treppe zurück. Er dachte nicht mehr an die Stufen, trat auf eine Kante, bekam das Übergewicht und kippte nach hinten.
Fangen konnte er sich nicht mehr. Mit dem Rücken schlug er auf die harten Kanten, überrollte sich und fand dabei seinen Weg bis zum Ende der Treppe, wo er stöhnend liegenblieb.
Lady Sarah hatte den Kopf gedreht und mit Schrecken festgestellt, dass ihrem Retter irgend etwas passiert war.
Er konnte nicht mehr hoch.
Und der Adler lebte noch.
Er schlug mit den Schwingen. Sie klatschten auf das Gestein des Treppenabsatzes. Obwohl die Schrotkörner in seinem Körper steckten, war sein untotes Leben nicht zerstört worden. Nur einen Flügel konnte er nicht mehr richtig bewegen, um in die Lüfte zu steigen.
Das sah Lady Sarah, sie wusste, dass sich der Adler seine Opfer holen würde und es auch schaffte, wenn sie nichts dagegen unternahm. Zunächst einmal musste sie aus seiner unmittelbaren Nähe und von der Treppe weg. Alles andere würde sich ergeben.
Die Horror-Oma raffte sich auf. Sie behielt den angeschossenen Vogel im Auge, als sie sich zur Seite drehte und schräg die Stufen der Freitreppe nach unten schritt, an deren Ende ihr Retter auf der kalten Erde lag und nicht in der Lage war, sich zu erheben. Die Schrotflinte war ihm aus den Händen
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