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schien Gefallen an der Folter zu haben, und Deri war entschlossen, Telor diese Qualen zu ersparen oder selbst bei dem Versuch, ihn zu retten, sein Leben herzugeben und auf diese Weise nie zu erfahren, wie sein Freund umgekommen war.
Voll bekleidet legte Carys sich leise hin und wartete darauf, dass die Nacht verstrich.
Sie war so erleichtert gewe-
sen, als Deri weggeritten war, dass es sie, als sie plötzlich wach wurde, nicht überraschte festzustellen, dass sie eingeschlafen war. Zuerst hatte sie keine Ahnung, wodurch sie geweckt worden war, doch als sie dann den Kopf zur Seite drehte, fiel ein Mondstrahl ihr ins Auge. Sofort auf der Hut, vernahm sie ein leichtes Kratzen und sprang auf, um die Abdeckung hochzuheben, mit der der Zugang zum Dachboden verschlossen wurde. Sie war überzeugt, Deri sei gekommen, und klopfenden Herzens hoffte sie einen Moment lang, er möge Telor bei sich haben, nur um im nächsten Augenblick zu befürchten, er habe nicht gewartet, um sich Lord William anzuschließen, da Telor tot war. Nachdem sie die Abdeckung jedoch beiseite geklappt hatte, sah sie, dass niemand sich auf der Leiter befand, und merkte, dass die Geräusche aus der unter ihr liegenden Kochstube kamen.
Eine schreckliche Erkenntnis verdrängte jede Hoffnung, und eine große Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen und es zu zerquetschen. Deri war unten und fürchtete sich davor, zu ihr nach oben zu kommen und ihr zu erzählen, dass Telor sie beide für immer verlassen hatte. Also war ihre Überzeugung, dass die Liebe Frau sie ausersehen hatte, nicht mehr als ein kindischer Drang, sich an einen albernen Traum zu klammern, um die Angst zu vertreiben. Die Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen ihr über das Gesicht, und sie musste sich am Rahmen der Lukenöffnung festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sobald sie jedoch imstande war, die Leiter hinunterzusteigen, tat sie das. Die Wahrheit konnte nicht vor ihr verborgen werden, und die Wahrheit würde nicht weniger bitter sein, wenn sie den Augenblick, in dem sie sie erfuhr, hinauszögerte.
Sie machte die Tür des Speisehauses auf und rief leise nach Deri. Der Ruf wurde jedoch von einem dünnen Angstschrei erwidert. Nichts hätte Deri bewegen können, ein solches Geräusch von sich zu geben. Es war nicht so, dass er keine Angst kannte, aber ein Mann von seiner Statur konnte niemals derart quieken. Also war da ein Dieb! In der Aufwallung von Freude, von der Carys erfasst wurde, War sie geneigt, jedermann alles zu verzeihen.
„Komm heraus", rief sie leise. „Ich werde dir nichts tun und dich gehen lassen, aber du darfst nichts Großes stehlen." Sie bekam keine Antwort und sagte, zwar immer noch leise, indes sehr viel schärfer: „Wenn du nicht sofort herauskommst, schreie ich um Hilfe. Mein Freund und ich müssen für alles aufkommen, was in diesem Laden verschwindet, und ich habe nicht..."
„Schrei nicht", flehte jemand flüsternd mit zitternder Stimme. „Hier ist Ann."
Carys war vom Donner gerührt. Schließlich brachte sie in halb ersticktem, ungläubigem Ton heraus: „Ann?"
Eine kleine Gestalt löste sich von einem Haufen aus Säcken und Abfällen und kam in das schwache Licht, das durch die offene Tür fiel. „Wo ist Deri?" fragte Ann verbittert. „Oben? In deinem Bett?"
Wenngleich Caiys noch immer kaum den Augen trauen mochte, reagierte sie auf den gequälten Ton, in dem die Fragen gestellt worden waren. Sie streckte die Hand aus und sagte: „Er ist weggeritten, um Telor zu helfen." Doch dann wurde sie wieder von Erstaunen überwältigt und fragte: „Was machst du hier mitten in der Nacht?"
Ann schwieg eine Weile und antwortete dann trotzig: „Ich bin hergekommen, weil ich mit Deri schlafen, wenigstens ein Mal im Leben die Arme eines Mannes um mich spüren wollte, und ..." Schluchzend hielt sie inne.
„Oh, Ann", wisperte Caiys. „Das hätte er nicht getan. Du hast ihn doch zu deinem Vater sagen gehört, er würde dich nicht verführen."
„Du meinst, er glaubt, dass auch ich ein Monster bin?"
„Ann!" rief Carys bestürzt aus. Sie war im Begriff gewesen, das Mädchen zu drängen, zu seinen Eltern zu gehen, ehe jemand merkte, dass es verschwunden war, brachte das jedoch nicht fertig. „Komm mit mir auf den Dachboden", sagte sie leise.
Einen Moment später tat ihr das Leid, und sie fragte sich, wie Ann imstande sein solle, die Leiter hochzuklet-tern. Ann machte jedoch keine Einwände und stieg mühsam, aber ohne große
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