032
Schwierigkeiten, die Leiter hoch. Als man auf dem Dachboden war, zündete Carys zwei Kerzen an dem Binsenlicht an, das als Nachtlampe diente. Dann drehte sie sich um, weil sie Ann sagen wollte, sie solle sich mit ihr auf die Schlafstatt setzen, doch der Mund blieb ihr offen stehen. Zwischen dem Gesicht der Frau und deren kindlichem Körper bestand kein Gegensatz mehr.
Über
einer gelben Tunika trug Ann ein leuchtend rotes Bliaut, das eng geschnürt war und so eine Figur erkennen ließ, die besser entwickelt war, als Carys erwartet hatte.
„Bei der Lieben Frau!" brachte sie heraus. „Ich glaube, Deri hätte das deinem Vater gegebene Wort gehalten, aber leicht wäre ihm das nicht gefallen. Du bist hübsch, Ann. Ich glaube, dein Vater ist verrückt. Ich glaube, jeder Mann, der dich so sehen könnte, wie du jetzt bist, wäre froh, dich zu haben, und dir der hingebungsvollste, liebevolle Ehemann, den eine Frau sich nur wünschen kann."
„Bis ich ihm ein missgebildetes Kind geboren habe", sagte Ann.
Darauf hatte Carys keine Antwort. Sie wusste, dass Zwerginnen manchmal zwergenhafte Kinder gebaren, und sie hatte Gerüchte gehört, dass auch noch schlimmere Missgeburten zur Welt gekommen waren. Aber manchmal hatten die Kinder sich nicht von anderen unterschieden. Unter Fahrensleuten machte das keinen großen Unterschied. Ein Zwergenkind war durchaus willkommen. Aber bei einem Bürger traf das nicht zu.
„Ich werde nie heiraten", fuhr Ann fort. „Ist es so falsch von mir, einem Mann beiliegen zu wollen? Und Deri ist nicht so wie die meisten . . . von uns, die ich gesehen habe. Er ist klug. Er ist freundlich. Und sein Gesicht. . . Ich werde ihn nie vergessen. Nie! Mein Vater wird mich umbringen, wenn er erfährt, was ich getan habe. Mehr als vor allem anderen graust ihm vor einem missgebildeten Enkelkind, durch das unsere Familie für alle Zeiten in Verruf käme. Aber das ist mir gleich.
Wann kommt Deri zurück?" Ann näherte sich Carys und ergriff deren Hand. „Er kommt doch zurück, nicht wahr?"
„Ich . . . das weiß ich nicht", antwortete Carys. „Er wird zurückkommen, falls ihm das möglich ist, aber ..."
„Was meinst du damit, ,falls ihm das möglich ist'?" rief Ann aus. „Glaubst du, nett zu mir zu sein, wenn du mir verschweigst, dass er es nicht ertragen konnte, mich anzusehen, und deshalb verschwunden ist?"
„Jetzt bist du albern", erwiderte Carys ärgerlich. „Du denkst zu viel an dich. Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Deri hat wichtigere Dinge zu tun, als an ein Mädchen zu denken." Plötzlich fiel ihr die frühere Angst ein, und ihre Lippen bebten. „Deri und mein Telor begeben sich in
große Gefahr. Vielleicht überstehen sie sie nicht lebend, du jedoch kannst nur an deine gekränkten Gefühle denken."
„Das wusste ich nicht", flüsterte Ann. „Oh, ja. Du hast gesagt, Telor habe etwas bei Lord William zu erledigen, aber . . . Können wir nichts tun, um Deri und Telor zu helfen?"
Einen Moment lang starrte Carys Ann verblüfft an. Die Frage war die letzte, die sie erwartet hätte. Ein Kummerschrei, ein Versprechen, beten zu wollen, Kerzen anzuzünden . . . aber der Wunsch zu helfen? Was glaubte Ann, welche Art Hilfe sie leisten könne? Diese Frage stellte Carys ihr laut.
„Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht weiß, welcher Art die Gefahr ist?"
antwortete Ann. „Ich bin nicht sehr kräftig, aber niemand bemerkt ein Kind, das eilig etwas zu erledigen hat oder herumlungert, oder ein kleines Mädchen, das in einem Winkel seine Stoffpuppe herzt. Und ich kenne giftige Kräuter. Lass mich in der Küche arbeiten, denn dann bringe ich jedermann dazu zu glauben, ich gehörte dorthin, und dann betäube ich alle Leute in einem Keep und töte vielleicht viele von ihnen."
Ein Anflug von Vergnügen war bei diesen Worten in Anns Gesicht erschienen und hatte Carys ein inneres Frösteln erzeugt, doch es legte sich schnell. Ein Plan begann Gestalt anzunehmen, formte sich so schnell und fügte sich so vollkommen, dass Carys unwillkürlich über die Schulter blickte. Der Mond stand jetzt anders, und die ganze Dachluke war von seinem silbernen Schein erfüllt. Eine Frage musste jedoch noch beantwortet werden, ehe die Ausführung des Plan möglich war.
„Telor und Deri sind nicht in Lechlade, Ann", sagte Carys. „Wenn du helfen willst, musst du mit mir kommen. Ich bin sicher, dafür wirst du schrecklich bestraft werden. Du musst dir das gründlich überlegen ..."
Ann erschauerte und
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