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hatte, sie sei nicht willens, mit ihm zu verkehren. Das war ihr auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen beinahe unverständlich. Schließlich war sie vollkommen in Telors Gewalt, sogar noch mehr, als das bei Morgan oder Ulric der Fall gewesen war.
Derweil sie ihn beobachtete, bemächtigte sich ihrer ein sehr eigenartiges Gefühl, das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und seinen Nacken zu streicheln, der irgendwie verletzbar und schutzlos wirkte, Telor das zu geben, was er haben wollte und ihn glücklich zu machen. Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick. Es wäre sehr dumm, diesem Impuls nachzugeben. Heute war Telor freundlich, doch wer konnte wissen, wie er morgen sein würde? Vielleicht hielt er sich nur zurück, weil sie ihm noch immer fremd war oder weil er, ungeachtet seiner Äußerung, ihre Tätigkeit als Seiltänzerin würde seinen Wert mindern, hoffte, an ihr zu verdienen.
Und sie wusste ohnehin, dass Lustgefühle die schlimmsten Seiten eines Mannes zum Vorschein brachten. Es wäre verrückt gewesen, Bereitschaft zu bekunden, sich mit einem Mann einlassen zu wollen, dessen Gesellschaft sie eine Zeit lang ertragen musste. Die hässlichen Gedanken bedrückten sie, und unvermittelt hatte sie einen Kloß im Hals. Ein leiser Laut, ein halbes Schluchzen, entrang sich ihrer Brust.
„Hab keine Angst vor mir, Caiys ", sagte Telor und wandte ihr dabei nur das Gesicht zu. „Ich werde dir nicht wehtun."
„Aber das ist dein Recht", brachte sie mühsam heraus und konnte kaum glauben, dass sie so etwas gesagt hatte. Nicht imstande, sich Einhalt zu gebieten, fügte sie hinzu: „Ich schulde dir mein Leben und viele andere, weniger bedeutsame Geschenke, zum Beispiel das Essen, die Bequemlichkeit..."
„Sei keine Närrin", unterbrach er sie gereizt und beugte sich wieder über die Näharbeit. „Ich habe für dich nicht mehr getan, als jedermann eingedenk der Lehre des Herrn einem anderen Menschen schuldig ist. Wenn du überhaupt eine Schuld abzutragen hast, dann tu das, indem du in Zukunft jemandem beistehst, der Hilfe braucht."
Statt das schlichte Wort „Danke" zu äußern, fühlte Ca-rys sich versucht, Telor zu sagen, sie könne ihre Schuld in einer viel direkteren Weise abtragen, indem sie ihm nämlich jetzt seine männlichen Bedürfnisse erfüllte. Sie schlug jedoch die Hand vor den Mund und fragte sich, was mit ihr nicht in Ordnung sei. Nach einem Augenblick der Betroffenheit merkte sie, dass sie tatsächlich mit Telor schlafen wollte und sich etwas vorgemacht hatte. Diese Erkenntnis war so verblüffend wie sein Benehmen.
Carys war erschüttert. Alle Fundamente, auf denen ihr bisheriges Weltbild geruht hatte, schienen in Stücke zu brechen. Warum verleugnete sie, dass sie einen Mann begehrte? In der Vergangenheit hatte sie ähnliche Wünsche verspürt, wenngleich sehr selten, und nie gezögert, sie sich zu erfüllen. Und das war die Antwort. Jedes Mal, wenn sie gemeint hatte, einen Mann gefunden zu haben, der ihr das geben konnte, worüber andere Frauen redeten, war sie enttäuscht worden. Aber sie wollte nicht von Telor enttäuscht werden. Sie hatte ihn gern.
In diesem Moment stand er auf, um ihr die Brayette zurückzugeben. Angesichts ihrer Miene bückte er sich und umfasste mit der freien Hand ihr Kinn. „Komm, Carys, wir werden besser miteinander auskommen, wenn du dir diesen Gedanken aus dem Sinn schlägst. Ich will deine Dankbarkeit nicht achtlos abtun. Ich habe Verständnis dafür, aber ich bin kein grüner Junge mehr, sondern ein Mann, und ich muss nicht darauf bestehen, dass du diesen Preis zahlst. Jetzt zieh die Brayette an, und vergiss die ganze Sache."
Er ging einige Schritte die Straße entlang und blieb, scheinbar auf Deris Rückkehr wartend, mit dem Rücken zu ihr stehen. Carys zog die Beinkleider an, kaum fähig, dem, was sie tat, genügend Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie nicht mit den Fußspitzen in den großen Abnähern hängen blieb, die Telor gemacht hatte, und so seine Arbeit ruinierte. Sie befand sich in einem solchen Gefühlsaufruhr, dass sie sich benommen fühlte, doch bald überlagerte eine verbissene Belustigung alle anderen Empfindungen. Telor hatte gut reden, wenn er ihr sagte, er könne sein Verlangen nach ihr beherrschen und sie solle vergessen, dass er sie begehrte. Aber wie sollte sie mit ihrem flammenden Begehren zurechtkommen?
5. KAPITEL
Als man sich am Spätnachmittag Castle Combe näherte, hatte Carys noch keine Antwort auf die Frage gefunden, wie
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