033 - Die Frau aus Grab Nr. 13
Eimer entfiel seiner kraftlosen Hand, polterte zu Boden.
»Meiner Seel!« stieß der Alte aus und bekreuzigte sich. »Zu allem Unglück auch noch das!« Er drehte sich taumelnd um, verschwand durch das Tor des Gemeindeamtes und schlug es hinter sich zu.
Dieter hörte das Einrasten des Riegels. Er stand da wie ein begossener Pudel.
Elke stieg aus dem Wagen. »Was war los?«
»Er hat mich nicht erkannt.« Er merkte, daß ihm seine Frau nicht recht glaubte, und lachte gekünstelt. »Na, kein Wunder – bei dem Bart und den langen Haaren. Komm, wir gehen ins Gasthaus. Der Wirt kennt mich sicher noch – wenn er mich auch in unangenehmer Erinnerung haben wird.« Er hakte sich bei Elke unter und plapperte weiter, während sie über den verschneiten Platz zu dem gegenüberliegenden Lokal gingen.
»Du müßtest eigentlich den Namen des Wirts kennen. Er heißt Engstier. Ein Bär von einem Mann. Vor ihm hatte jeder Randalierer Schiß. Er hatte einen Sohn in meinem Alter, der debil war und dem wir oft arg mitspielten. Er war für uns der Dorftrottel. Heute schäme ich mich für die Gemeinheiten, die wir ihm antaten.«
Sie erreichten das Lokal. Steinerne Stufen führten zum Eingang hinauf. Die Glastür war mit einer grauen Decke verhängt, um das Lokal gegen Zugluft abzudichten. Über dem Eingang hing ein dunkelgrünes Schild mit der Aufschrift: Gasthaus Eberhard Engstier. Darunter stand in kleineren Druckbuchstaben: Warme und kalte Speisen, Eigenbauweine.
Bevor Dieter die Stufen hinaufstieg, blickte er sich noch einmal zum Gemeindeamt um. Dort brannten jetzt alle Lichter im Erdgeschoß, und der alte Wiesinger stand mit einer dicken Frau vor dem Tor und deutete zu ihnen herüber.
Dieter hätte zu gern gewußt, warum dem Alten der Schreck so gehörig in die Glieder gefahren war. Aber er wollte Elke verständlicherweise nichts davon sagen.
Sie betraten die Schankstube. In der Luft hing der Qualm billiger Zigarren. An einem Tisch nahe dem Eingang saßen fünf Einheimische und spielten Karten; das heißt, vier spielten, und einer schaute zu. Der Zuschauende trug die Uniform eines Polizisten und hatte ein rotes, pausbäckiges Gesicht. Er war um die fünfundzwanzig, also etwa so alt wie Dieter. Dieser erkannte in ihm sofort einen seiner Jugendfreunde. Doch die Erfahrung, die er mit dem alten Wiesinger gemacht hatte, hielt ihn davon zurück, sich zu erkennen zu geben. Von den Kartenspielern, die alle über vierzig waren, kam ihm keiner bekannt vor.
Als er mit Elke zwei Tische weiter Platz nahm, schielten die Männer verstohlen zu ihnen herüber und tuschelten miteinander.
Einer der Spieler – er hatte einen vom Alkohol geröteten Wasserkopf – rief plötzlich: »Sie frißt die Kinder! Ich sage euch, sie frißt sie mit Haut und Haaren. Und die Gastarbeiter stecken mit ihr unter einer Decke. Ich kann diese Gesichter nicht mehr sehen.« Und dabei stierte er Dieter an.
»Sei still, Alois!« redete ihm der Gendarm zu. »Du hast einen sitzen.«
Der Betrunkene warf die Karten fort und rief in Dieters und Elkes Richtung: »Kinderräuber! Mörder! Gemeine …«
Elkes kalte Hand legte sich auf Dieters. »Mein Traum«, murmelte sie.
»Jetzt ist es genug!« Die schneidende Stimme kam von der Theke. Dort war Engstier, der Wirt, aufgetaucht. Seine kleinen Schweinsäuglein blickten drohend in Richtung der Kartenrunde und fixierten den Betrunkenen.
Dieter erinnerte sich noch gut daran, daß sie Engstier früher den »Ranzenwirt« genannt hatten, weil sich sein Bauch unter der Schürze wie eine Tonne wölbte. Daran hatte sich nichts geändert. Er war sogar noch dicker geworden, und sein Schädel war kahl.
Er trat zu Dieter und Elke an den Tisch, wobei er den Kartenspielern einen warnenden Blick zuwarf. »Was darf's denn sein?« erkundigte er sich wie nebenbei.
»Bringen Sie uns bitte zwei Kaffee. Große.« Dann deutete Dieter mit dem Kopf in Richtung der Spieler und fragte: »Was hat der Mann gegen uns? Wir haben ihm keine Veranlassung gegeben, uns zu beschimpfen.«
»Der Alkohol«, sagte der Wirt. »Wir sind alle hier in Striga etwas aus dem Häuschen. Es ist was Schreckliches passiert. Letzte Nacht sind fünf Kinder verschwunden.«
Elke stieß einen spitzen Schrei aus. Ihre Hände begannen zu zittern. Der Wirt starrte sie mißtrauisch an, dann wandte er sich der Theke zu, um die Mokkamaschine zu bedienen.
»Wenn die Kinder noch lebten, hätten wir sie gefunden«, rief der Betrunkene wieder grölend. »Ich sage euch, sie hat sie
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