034 - Der Hexer
vorbei. »Er wird Sie doch nicht etwa während der Bürostunden besuchen?«
Sie spürte den Sarkasmus in seinem Ton nicht.
Er ließ die Augen nicht mehr von ihr. Er fand sie noch schöner als vor ein paar Tagen. Sie war der zierliche Typ, den er liebte, dunkler als Gwenda Milton, und feiner. Aus ihren Augen sprachen Seele, Geist, unerweckte Leidenschaft, ein verborgenes Feuer, das angefacht werden mußte.
Sie wurde unter seinem Blick verlegen.
»Ich will Ihnen jetzt das Haus zeigen«, erklärte er lebhaft.
Vor einer Tür im obersten Stock zögerte er, zog aber nach kurzer Überlegung einen Schlüssel hervor und öffnete.
Mary sah an ihm vorbei und erblickte ein Zimmer, wie sie es in diesem alten Haus nicht erwartet hätte. Zwar bedeckten dicke Staubschichten alle Gegenstände, aber es war ein wunderschöner Raum, Wohn- und Schlafzimmer in einem, mit einem Luxus ausgestattet, der in Erstaunen setzte. Die französischen Stilmöbel, der dicke Teppich, die silbernen Wandleuchter und geschmackvolle Bilder offenbarten einen verschwenderischen Aufwand.
»Ist das ein hübsches Zimmer!« rief Mary, als sie ihre Verblüffung etwas überwunden hatte.
»Ja - sehr hübsch.« Messer starrte düster in das Nest, das Gwenda Milton bis zu ihrem tragischen Ende bewohnt hatte. »In es nicht besser als Malpas Mansions, wie?« Seine gerunzelte Stirn glättete sich. »Es muß nur etwas gereinigt und Staub gewischt werden, und schon ist es für eine Prinzessin bereit! - Ich werde Ihnen das Zimmer zur Verfügung stellen, meine Liebe ...«
»Mir - zur Verfügung stellen?« Sie starrte ihn an. »Das ist unmöglich, Maurice, ich lebe mit Johnny zusammen, könnte also gar nicht hier wohnen.«
Er zuckte die Achseln.
»Johnny? Ja. Aber eines Abends könnte es hier einmal spät werden - oder Johnny könnte fort sein. Ich wage nicht, daran zu denken, daß Sie dann allein in jener elenden Wohnung hausen müßten.« Er verschloß die Tür wieder. »Natürlich ist dies eine Angelegenheit, die Sie allein entscheiden müssen«, meinte er leichthin. »Das Zimmer ist da - wenn Sie es einmal brauchen sollten.«
Sie antwortete nicht. Dieser Raum war schon bewohnt gewesen, das stand fest, und zwar von einer Frau. Für einen Mann paßte die Einrichtung kaum. Mary fühlte sich etwas unbehaglich; denn über Maurice Messers Privatleben wußte sie nichts. Sie erinnerte sich undeutlich, daß Johnny eine gewisse Episode aus Messers Leben erwähnt hatte, auf die sie jedoch nicht neugierig gewesen war.
Gwenda Milton!
Plötzlich fiel ihr dieser Name ein. Sie erschrak. Gwenda Milton, die Schwester eines Verbrechers! Sie erschauerte, als ihre Gedanken zu dem prächtigen Zimmer zurückkehrten, das vom Geist einer toten Liebe bewohnt wurde. Mary saß an ihrem Arbeitstisch, und es war ihr, als starrte ein todblasses, angstverzerrtes Gesicht sie an.
10.
Am Nachmittag des gleichen Tages landete die ›Olympic‹ im Hafen von Southampton. Die beiden Männer von Scotland Yard, die sich seit Cherbourg auf dem Schiff befanden und jeden Passagier genau beobachtet hatten, verließen es als erste.
Sie stellten sich am Ende der Landungsbrücke auf. Es dauerte lange, bis die Prüfüng der Pässe in Gang kam, doch endlich entstand Bewegung, und die Passagiere stiegen einzeln zum Kai hinunter.
Einem der Detektive fiel ein Gesicht auf, das er auf dem Schiff nicht gesehen hatte. Am Schiffsgeländer erschien ein Mann mittlerer Größe, ziemlich schlank, mit kleinem Spitzbart und schwarzem Schnurrbart. Langsam kam er näher.
Die Detektive warfen sich einen Blick zu. Als der Passagier den Kai erreichte, trat der eine Beamte an ihn heran.
»Bitte, verzeihen Sie, ich habe Sie auf dem Schiff nicht gesehen.«
Der Mann mit dem Spitzbart musterte ihn kühl.
»Machen Sie mich etwa für Ihre Blindheit verantwortlich?« fragte er.
»Kann ich Ihren Paß sehen?«
Der Passagier zögerte erst, dann griff er in die innere Rocktasche und zog ein Lederetui heraus, dem er eine Karte entnahm. Der Detektiv las:
Hauptinspektor Bliss
Kriminalabteilung Scotland Yard
Gesandtschaftsattaché in Washington
»Ich bitte um Verzeihung.« Der Beamte gab die Karte zurück. »Ich habe Sie nicht erkannt, Mr. Bliss. Sie hatten keinen Bart, als Sie Scotland Yard verließen.«
Bliss nahm die Karte zurück, steckte sie wieder in das Etui und wandte sich mit einem Kopfnicken ab.
Er trug sein Gepäck nicht ins Zollamt hinein, sondern stellte es kurz davor auf den Boden. Mit dem Rücken zum Gebäude
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