034 - Die toten Augen
hatte, erhängte sich in seiner Gefängniszelle. Nun blieb nur noch ich übrig, und ich fürchtete natürlich, daß alles an mir hängen bleiben würde.
Aber dann stellte mich der Untersuchungsrichter den Leuten vor, die uns im Schloß besucht hatten. Ein Jugendgericht befaßte sich mit meiner Akte, und nachdem man meinen harmlosen Brief an Tante Claire gelesen hatte, der in einer Tasche des Toten gefunden worden war, befreite man mich von jedem Verdacht der Mittäterschaft. Man warf mir nur vor, an einem harmlosen Betrug beteiligt gewesen zu sein, als ich die Rolle des Sohnes des Grafen spielte. Man ließ mich jedoch frei, weil man mir jede Zurechnungsfähigkeit aberkannte. Das ärgerte mich zwar, aber es war natürlich besser, als gehängt zu werden.
Sobald ich auf freiem Fuß war, schiffte ich mich nach Frankreich ein. Ich war unendlich froh, diesem ungastlichen Land endlich den Rücken kehren zu können, das ich so ahnungslos betreten hatte.
Einige Jahre waren seit jenen schrecklichen Ereignissen vergangen. Ich war inzwischen über Dreißig, hatte mein Medizinstudium beendet und eine Praxis eröffnet. Natürlich hatte ich Rose geheiratet, und wir bekamen Zwillinge, die wachsen und gedeihen.
Letzten Sommer beschlossen meine Frau und ich, nach England zu reisen. Ich hatte diese Idee, denn ich wollte nach Möglichkeit Frederick de B. besuchen, der immer noch in der Nervenheilanstalt lebte.
Nach einigen Formalitäten erhielt ich die Erlaubnis, ihn zu besuchen. Rose zog es vor, im Hotel zu bleiben, sie legte keinen Wert darauf, einen Verrückten kennenzulernen, wie sie sagte. Also ging ich allein hin.
Der Kranke kam mir im Besucherraum entgegen. Er war etwas dicker geworden und sah nun seinem Vater ziemlich ähnlich. Ich sah ihn zum erstenmal bei Tageslicht. Damals in der Zelle war er mir wie ein Gespenst vorgekommen, abgemagert und fahl.
Erstaunt sah er mich an.
„Fred?“ sagte ich. „Ich bin es, Ferdinand.“
Er nahm meine Hände und drückte sie fest. Tränen traten ihm in die Augen, und er betrachtete mich fast bewundernd. Ich wurde verlegen.
„Wie sehr Sie ihr ähneln!“ rief er aus.
Ich entzog ihm vorsichtig meine Hände, und wir setzten uns. Nachdem wir eine Weile geplaudert hatten, sagte ich: „Es scheint Ihnen körperlich und … geistig gut zu gehen. Warum bleiben Sie hier? An Ihrer Stelle würde ich das Erbe Ihres Vaters in Anspruch nehmen und mir ein angenehmes Leben machen.“
„Ich habe Angst vor dem Leben“, antwortete er mir. „Seit … seit das alles passiert ist. Nein, nein, ich habe zu große Angst!“
„Aber, aber“, sagte ich, „Sie sollten ein bißchen mehr Mut zeigen. Außerdem müssen die Ärzte hier doch merken, daß Sie gesund sind. Wieso behalten sie Sie noch hier?“
„Ich spiele ihnen etwas vor. Passen Sie auf, ich werde es Ihnen zeigen.“
Er zwinkerte mir mit den Augen zu, sprang so heftig auf, daß sein Stuhl umfiel und rang die Hände. Mit schmerzverzerrtem Gesicht begann er zu schreien.
„Tante Claire! Tante Claire!“
Dabei machte er eine Handbewegung, als müsse er eine düstere Vision vertreiben.
Krankenwärter kamen herbeigelaufen, packten ihn und brachten ihn hinaus.
„Der Arme“, dachte ich. „Um so verrückt zu spielen, muß man es wohl ein wenig sein …“
Als ich nach London zurückgekehrt war, erzählte ich Rose von diesem Besuch.
„Aha“, sagte sie.
Rose machte nie viele Worte. Das gefiel mir so an ihr. Einmal hatte ich ihr angedroht, wenn sie mich betrüge, würde ich sie in den Keller sperren.
„Ach so?“ hatte sie geantwortet.
Und dabei lächelte sie wie eine Sphinx. Diese Frau … Ich erklärte ihr, daß es Ehemänner gab, die so etwas und noch Schlimmeres taten. Wenn das alle Ehemänner machten, gäbe es weniger untreue Ehefrauen.
Ich habe ihr nie gesagt, daß auch ich manchmal von Alpträumen verfolgt wurde. Ich wollte sie nicht beunruhigen, aber gab es überhaupt etwas, das diese Frau beunruhigen konnte?
Es passierte mir zum Beispiel manchmal, daß ich mich beim Rasieren im Spiegel ansah und dann plötzlich anstelle meiner Augen zwei dunkle Höhlen sah. Und dann schrie eine verzweifelte Stimme: „Tante Claire! Tante Claire!“
Es waren die Schatten der Vergangenheit, die mich verfolgten.
Und wenn die Stimme auch noch so oft schrie, Tante Claire würde nie mehr zurückkommen. Arme Tante Claire, armer Frederick!
Ende
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