034 - Die toten Augen
nicht. Aber was ich hörte, genügte mir, um den Zusammenhang zu begreifen und mich zutiefst zu erschüttern.
„Heute nacht, Mylord?“ fragte Jane. „Ist das ganz sicher?“
„Ja, Jane. Sie sagen mir wie das letztemal Bescheid, wenn Ihr Mann eingeschlafen ist.“
„Unmöglich, Mylord. Er schläft allein in einem Zimmer. Aber ich könnte ihm ein Schlafmittel geben.“
„Ein Schlafmittel?“
„Ja, wenn Sie mir erlauben, das Mittel aus Ihrer Hausapotheke zu holen, das Sie bei Schlafstörungen nehmen.“
Den nächsten Satz verstand ich nicht. Jane sagte nach einem kurzen Schweigen: „Den anderen auch.“
„Den anderen?“
„Ja, den jungen Mann, den Sie unvorsichtigerweise hierher gebracht haben, Mylord. Wer ist dieser junge Mann? Wollen Sie es mir jetzt endlich verraten?“
„Es ist der Neffe der Gräfin. Der Sohn ihrer Schwester. Aber warum wollen Sie ihn denn auch betäuben?“
„Stellen Sie sich nur vor, er schläft vielleicht nicht und geistert in den Gängen herum! Er könnte Sie stören, Mylord.“
„Gut, wie Sie wollen, Jane. Gibt es sonst noch etwas?“ Der Graf schien langsam ungeduldig zu werden.
„Wenn die beiden schlafen“, sagte Jane leise, „dann könnte man sie doch leicht mit einer Schnur oder einem Kissen …“
Sie sprach nicht weiter, aber es war nicht schwer, sich vorzustellen, was für düstere Pläne sie hegte.
„Was? Sie wollen Ihren eigenen Mann töten?“ fragte der Graf, und zum erstenmal zitterte seine Stimme etwas. „Was für ein Ungeheuer sind Sie, Jane! Genügen Ihnen zwei Tote nicht?“
„Das sind Ihre Toten, Mylord. Ich will nicht etwa, daß die anderen sterben, weil ich so blutrünstig bin. Aber wissen Sie denn nicht, was passieren könnte, Mylord, wenn Sie meinen Mann und Ihren angeblichen Sohn leben lassen? Muß ich Ihnen das erst sagen?“
„Aha“, meinte der Graf bitter, „Ihr Ehrgeiz, Gräfin werden zu wollen, ist der Grund. Darüber haben wir doch bereits gesprochen. Und ich denke, ich habe deutlich genug nein gesagt. Wieso fangen Sie wieder davon an? Ich habe Ihren Mann sehr gern. Er hat viel für mich getan, und ich mag auch den jungen Mann sehr, den Sie meinen angeblichen Sohn nennen. Ihr Ehrgeiz erschreckt mich, denn er kommt nur aus eiskalter Berechnung.“
Jane wollte etwas entgegnen, aber der Graf ließ sie nicht zu Wort kommen. „Sagen Sie nichts, Jane. Das, was ich tue, hat seine Berechtigung. Denn ich räche mich für etwas, das man mir angetan hat. Und wenn mein Haß vielleicht auch nicht ganz zu rechtfertigen ist, so ist mein Motiv doch besser als Ihres. Hören Sie auf, mir solch grausame Vorschläge zu machen.“
„Nein“, sagte Jane selbstbewußt. „Sie müssen mir zuhören, Mylord.“
Der Graf ging zur Tür, und ich hörte, wie Jane ihm folgte. An der Tür stehend, redete sie leise auf ihn ein. Ich konnte kein Wort mehr verstehen. Wie versteinert saß ich in meinem Sessel.
Schließlich sagte der Graf ziemlich laut: „Gut, ich werde mir das alles überlegen. Heute abend gebe ich Ihnen eine Antwort.“
Die Schritte der beiden entfernten sich. Langsam erhob ich mich. Dann lief ich durch die leeren Gänge in mein Zimmer hinauf »und hoffte inständig, niemandem zu begegnen.
In meinem Zimmer ließ ich mich auf mein Bett fallen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen und über das belauschte Gespräch nachzudenken.
Soeben hatte ich erfahren, daß der Graf zwei Menschen getötet haben mußte und daß er heute nacht etwas plante, bei dem Matthew und ich nur im Weg sein würden. Deshalb wollte er uns betäuben und vielleicht auch umbringen.
Aber wer waren die beiden, die er getötet hatte? Es konnte sich nur um Tante Claire und Frederick handeln. Aber warum nur hatte er das getan? Aus Rache, sagte er. Rache wofür?
Und was würde heute nacht geschehen? Es mußte etwas Furchtbares sein, wenn dazu der Verwalter und ich aus dem Weg geräumt werden mußten.
Plötzlich fiel mir wieder der Teewagen mit Essen ein, den Matt im Erdgeschoß den Gang entlang geschoben hatte. Diese Mahlzeit war vielleicht doch für die Gräfin und ihren Stiefsohn bestimmt gewesen. Dann waren sie noch gar nicht tot, sondern sollten erst heute nacht umgebracht werden!
Ja, jetzt verstand ich alles. Die einzelnen Steine des Mosaiks paßten zusammen. Der junge Mann und seine Stiefmutter wurden irgendwo im Schloß gefangengehalten. Vielleicht schon seit langer Zeit. Und heute nacht sollte nun ihre letzte Stunde schlagen.
All das schien mir ganz logisch zu
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