034 - Die toten Augen
je von Tante Claire, der Graf noch weniger als die anderen. Wenn ich Fragen in dieser Richtung stellte, bekam ich nur ausweichende Antworten und sah verlegene Gesichter.
Ja, man verbarg meine Tante Claire vor mir. Sicher war sie nicht in jenem Zimmer. Aber wo war sie nur?
Ich begann, einen Teil der Antwort darauf zu ahnen, als ich Matthew einmal zufällig im Erdgeschoß sah. Lautlos schob er einen Teewagen mit Essen vor sich her. Er sah mich nicht. Der Graf und ich hatten schon gegessen, Matt und Jane aßen immer in ihrem Zimmer. Also war das Essen auf dem Teewagen für jemanden bestimmt, der im Parterre wohnte, irgendwo am Ende des Ganges, den ich noch nie betreten hatte. Aber ich würde bei der nächsten Gelegenheit dort hinuntergehen und nachsehen. Natürlich mußte ich einen günstigen Augenblick abwarten.
Ja, bestimmt, meine Tante Claire wohnte irgendwo dort unten, in einem abgelegenen Zimmer; der Beweis dafür war, daß man ihr das Essen brachte. Ich wußte es, ich fühlte es. Und ich hatte sogar den Verdacht, daß sie gar nicht an einer Augenkrankheit litt.
Wußte sie von dem Komplott? Und was für ein Komplott mochte das überhaupt sein? Mein einziger Anhaltspunkt war das, was der Graf mir in Paris gesagt hatte. Aber war das überhaupt die Wahrheit? Ich zweifelte immer mehr daran. Und ich geriet wider Willen immer tiefer in ein Labyrinth, aus dem ich vielleicht bald keinen Ausweg mehr finden würde. War mein Leben in Gefahr? Was hatte man mit mir vor? Welche finsteren Absichten hegte dieser unheimliche Graf mit den verrückten Augen?
Langsam bekam ich Angst. Ich überlegte, ob ich nicht fliehen könnte aus diesem Schloß, das mir wie von einem Fluch belastet schien. Aber dann geschah etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte, und ich vergaß für eine Weile meine Besorgnis und meine Befürchtungen.
Der Graf kündigte mir eines Morgens an, er habe einige Einladungen verschickt, und wir würden nun wahrscheinlich bald Besuch empfangen.
Diese Aussicht beruhigte mich etwas, denn ich hoffte nun wenigstens, ein paar neue Gesichter zu sehen. Obwohl ich lügen mußte, würde das eine Komödie geben, die mir vielleicht Spaß machte. Der Graf hatte mir ja versichert, daß es kein schlimmer Betrug sein würde, wenn ich mich, lächelnd und zurückhaltend, als sein Sohn ausgab. Niemand würde ahnen, daß ich nicht Fred war, niemand würde mich als Betrüger entlarven.
Der erste Besuch war eine herbe Enttäuschung. Man sagte mir, daß es sich um Neffen des Grafen handelte. Die beiden sahen recht unbedeutend aus, waren unverheiratet und machten den Eindruck, nur aus Gründen der Etikette gekommen zu sein. Sie blieben nur sehr kurz, tranken eine Tasse Tee und warfen einen Blick auf die kranke ‚Gräfin’. Sie verabschiedeten sich gleich danach.
Ich war ihnen als Sohn des Hauses vorgestellt worden, und sie hatten mich kaum eines Blickes gewürdigt und nicht mit mir gesprochen. Ich gewann den Eindruck, daß sie erleichtert aufatmeten, als sie den Höflichkeitsbesuch hinter sich hatten.
Am anderen Tag empfingen wir einen Baron und seine Frau, deren Namen ich vergessen habe. Alles wickelte sich fast wie beim erstenmal ab, nur war dieser Besuch etwas ausgedehnter. Man unterhielt sich mit mir, fragte mich über meine Reisen in Frankreich aus und zeigte sich betrübt über die Krankheit der Gräfin. Die beiden blieben auch etwas länger im Krankenzimmer. Alles in allem ging es auch diesmal besser, als ich gedacht hatte.
Genauso war es mit der Aufwartung eines weiteren Ehepaares, eines ziemlich einfachen Gutsbesitzers und seiner Frau, die rasch wieder hinauskomplimentiert wurden.
Die folgenden Gäste – sie sollten die letzten sein – machten einen tieferen Eindruck auf mich.
Es handelte sich um einen Bankier aus London, der in der Nähe ein Landhaus besaß. Dort lebte er mit der Tochter einer Adelsfamilie aus der Gegend. Auch ihren Namen habe ich vergessen, aber das ist unwesentlich. Es waren vornehme Leute, nicht mehr sehr jung. Sie gruben eine Menge Erinnerungen aus der Vergangenheit aus, da die Frau des Bankiers mit der ersten Frau des Grafen, Freds Mutter, eng befreundet gewesen war. Sie konnte sich nicht beruhigen, wie sehr ich gewachsen sei, seit sie mich das erstemal gesehen habe. Als ich das hörte, wurde ich blaß. Denn der Graf hatte mir geschworen, daß niemand in England mich als kleines Kind gesehen hatte, weil ich mich immer versteckte, wenn jemand kam.
Ich bemühte mich, den Grafen nicht anzusehen,
Weitere Kostenlose Bücher