0341 - Die Nadel der Cleopatra
Hand den Vorhang und zog ihn auseinander.
Er lief wie von selbst zur Seite und gab den Blick frei auf ein herrschaftliches Gemach.
Prunkvoll war die breite Liege. Umgeben von Kissen und hohen mit Obst gefüllten Schalen, stand sie im Mittelpunkt dieser »Bühne«.
An den Seiten brannten kleine Feuer. Ihre Flammen zuckten geisterhaft. Sie leuchteten mal grün, mal blau, dann wieder rot oder gelb.
Ihr Widerschein fiel auf eine wunderschöne Frau, die auf der Seite liegend und dabei aufgestützt ihren Körper auf das prunkvolle Bett drapiert hatte.
Die Frau besaß schwarzes halblanges Haar. Ihr Gesicht war fein geschnitten, die Augen waren sehr dunkel, die Brauen schmal und wie rasiert. Der Mund weich und voll. So bot er eine Verlockung für jeden Mann. Auf der zarten Wangenhaut schimmerten winzige Goldplättchen, die sich wiederum innerhalb des kostbaren Gewandes wiederfanden, das den Körper der Liegenden umschmeichelte.
Blau, rot und türkis. Diese Farben herrschten vor. Man hatte viel Stoff verwendet. In mehreren Bahnen lag er übereinander und war dennoch so durchsichtig, daß sich der ebenmäßige Körper darunter abzeichnete.
Die Frau hatte lange Arme, sehr schmale Hände und dunkel lackierte Nägel. Zwischen ihren Fingern balancierte sie eine Weintraube, die sie zunächst anschaute und dann zwischen ihre perlweißen Zähne steckte, um sie zu zerknacken.
Im Hintergrund richteten sich zwei gezähmte Löwen auf, die anfingen zu knurren, doch mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht wurden. Man hatte die Tiere aus Rom kommen lassen und sie der Frau zum Geschenk gemacht.
»Deine Dienerinnen«, meldete der nubische Sklave mit einer seltsam hohen Stimme. »Sie kommen zu einem Abschiedsbesuch, o Herrin.«
»Ich danke dir, Usanga, und ich werde dich nicht vergessen. Tritt jetzt zur Seite und laß die drei näherkommen.«
Der Sklave tat, was man ihn geheißen hatte.
Die Frauen setzten sich in Bewegung. Ihre Schritte waren kaum zu hören. Als sie die unterste Stufe der Treppe erreicht hatten, verneigten sie sich so tief, daß ihre Stirnen das kalte Gestein berührten.
Sie richteten sich wieder auf und sagten wie im Chor.
»Wir grüßen dich, hochverehrte Cleopatra…«
***
Suko war nicht nach Hause gefahren. Er hatte im Bereitschaftsraum des Yard auf einem Feldbett übernachtet.
Übernachtet war genau der richtige Ausdruck, denn geschlafen hatte er kaum.
Shaos Schicksal wollte ihm nicht aus dem Kopf. Wo konnte seine Freundin stecken?
In einer anderen Zeit, in einer anderen Dimension?
Suko drückte seinen Körper zur Seite und setzte sich auf. Den Kopf stützte er in beide Hände. Er fühlte sich so zerschlagen, als hätte er eine Nacht durchgezecht.
Es dauerte Minuten, bis es soweit war, daß er aufstehen und in den Waschraum gehen konnte. Dort traf er noch Kollegen von der Nachtschicht, die Feierabend hatten und sich rasierten. Suko mußte sich spöttische Bemerkungen gefallen lassen, was sein Aussehen anging. Er kümmerte sich nicht darum, wusch sein Gesicht und trocknete sich mit dem billigen Kratzhandtuch ab.
Danach betrat er das Büro, stickige Luft empfing ihn. Glenda war noch nicht da. Den Tee kochte Suko sich selbst. Während das Getränk zog, schaute er aus dem Fenster.
Über London fegte ein steifer Wind. Von Westen her wurden Wolkenberge herangetragen. In den vergangenen Stunden hatte es einen Wetterumschwung gegeben. Die Sommerzeit schien vorbei zu sein. Erste Blätter wurden von den Bäumen geholt und taumelten durch die Luft.
Suko betrat wieder das Vorzimmer und holte seinen Tee. Er trank ihn langsam. Sonst freute er sich immer auf das Getränk, jetzt wollte es ihm nicht schmecken, da sich seine Gedanken allein um Shao drehten. Wohin konnte sie verschwunden sein?
Die Tür zum Vorzimmer wurde aufgestoßen. An den schnellen Schritten erkannte Suko Glendas Gang. Sie schaute in das nebenanliegende Büro und riß überrascht die Augen auf, als sie Suko am Schreibtisch sitzen und Tee trinken sah.
»Du bist schon hier?«
»Wie du siehst.«
Glenda hatte sich einen hellen Staubmantel übergestreift. Sie öffnete den Gürtel und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Hat man, dich zu Haus rausgeworfen. Außerdem… du siehst aus, als hättest du durchgemacht.«
»So fühle ich mich auch.«
Glenda kam einen Schritt näher. »Was ist denn geschehen?« fragte sie.
»Shao ist verschwunden.«
»Nein!« Sie preßte ihre Hand dorthin, wo das Herz schlug. Zwischen der
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