0341 - Die Nadel der Cleopatra
Stift. Er lief vorn spitz zu und sah eigentlich mehr aus wie eine Glasscherbe.
Im Moment war er für Shao uninteressant, sie wollte den Killer.
Was sie in den letzten Sekunden an neuen Eindrücken aufgenommen hatte, war schon phänomenal. Shao konnte sie kaum verkraften oder richtig sortieren, so schnell war alles gegangen.
Lauerte der Killer noch hinter dem Vorhang, oder war einfach zuviel Zeit vergangen?
Sie tauchte in eine andere Welt. Abrupt war dieser Übergang. Von diesem schreienden tobenden Durcheinander, in einen von düsteren Glühbirnen erhellten Raum, der sie an die Rückseite einer Bühne erinnerte.
So tief, breit und auch vollgestellt mit allerlei Gerümpel. Schon möglich, daß sich dort, wo sich jetzt die Kneipe etabliert hatte, früher einmal ein Theater gewesen war. Und dazu zählte auch dieser Rückraum, der zudem als Lager diente, denn Shao sah zahlreiche Bierkästen, Kartons, sogar verschimmelte Koffer und zerbrochene Flaschen.
Nur den Mörder sah sie nicht.
Mit schnellen Schritten ging sie den Rückraum ab und entdeckte tatsächlich eine schmale Tür, die nicht geschlossen war, denn ein dünner Luftzug bewegte sie.
Sofort war Shao an der Tür. Sie riß sie hastig auf und schaute in den Gang, an dem die Toiletten lagen. Nicht allein sie, auch die Küche befand sich in der Nähe, was Shao überhaupt nicht mochte, so daß sie sekundenlang das Gesicht verzog.
Aus der Küche hörte sie Stimmen. Ein als Koch gekleideter Mann rannte aus dem Raum, sah sie und brüllte ihr irgend etwas zu, das sie nicht verstand. Danach verschwand er wieder in seinem Kochtopfreich.
Shao hetzte an der Tür vorbei. Sie interessierte der andere Ausgang, den sie am Ende des Ganges entdeckte. Es mußte der sein, der in einen Hof oder anderswohin führte.
Diesmal war sie vorsichtiger, als sie die Tür öffnete. Sie wußte genau, daß sie sich in ihrer hellen Kleidung sehr deutlich in der Dunkelheit abhob. Zudem spürte sie auf ihrem Rücken ein gewisses Kribbeln. Es deutete zwar nicht gerade auf eine direkte Gefahr hin, war aber als Warnung zu verstehen.
Sie gab höllisch acht.
Sacht schob sie sich über die Schwelle. Mit den Zehenspitzen trat sie auf, und der folgende Rundblick gab ihr zu verstehen, daß sie sich in einem kleinen Garten befand, den sie hier in der Gegend nicht vermutet hätte.
Sogar ein Baum wuchs in der Mitte des Gartens, und neben dem dünnen Stamm stand eine Gestalt.
Der Mörder?
Das prickelnde Gefühl verdichtete sich zu einer Gänsehaut. Es war gleichzeitig eine Warnung, die Shao allerdings überhörte, denn sie wollte wissen, ob sie mit ihrer Vermutung recht behalten hatte.
Die Gestalt neben dem Baum rührte sich nicht. Sie sah zwar wie ein Mensch aus, dennoch hatte Shao das Gefühl, keinem richtigen Menschen gegenüberzustehen.
Das war ein völlig anderes Wesen.
Schritt für Schritt näherte sich die Chinesin dem Mörder. Für sie kam er nur als Mörder in Frage. Als sie nahe genug herangekommen war, weiteten sich ihre Augen.
Jetzt erst erkannte sie die gesamte Wahrheit.
Fremdländisch war die Gestalt gekleidet. Sie trug ein langes Gewand und ihre lackschwarzen Haare als Pagenschnitt. Sie hatte ein rundes puppenhaftes Gesicht, war wesentlich kleiner als Shao und schillerte seltsam.
Die Chinesin blieb stehen. Sie konnte momentan noch nichts damit anfangen, schaute noch genauer hin und sah, daß die Farbe von der Haut ausging. Man konnte sie nicht als hell bezeichnen, auch nicht als schwarz, eine Mischung aus beiden.
Blau.
Genau, das war es. Die Haut der Gestalt besaß einen blauen Ton.
Natürlich dachte Shao automatisch an übersinnliche Dinge, und sie sah auch den seltsamen Stab in der rechten Hand der Gestalt, was sie jedoch am meisten beeindruckte, war etwas anderes.
Vor ihr stand kein Mörder, sondern eine Mörderin.
Der Killer war eine Frau!
***
Bill Conolly und ich wagten kaum zu atmen, weil wir die heilige Ruhe nicht stören wollten. Selbst wurden wir eingefangen von einer Insel der Stille, denn unsere Freunde hatten sich bewußt zurückgezogen, damit wir einen vorläufigen Abschied nehmen konnten.
Abschied von einer Toten?
Diese Frage stellte sich bei mir automatisch, denn die Gestalt, auf die mein Freund Bill und ich schauten, sah tatsächlich wie eine Tote aus.
Es war Jane Collins!
Lebte sie, war sie verstorben? Wir wußten es nicht genau. Man konnte sagen, daß Jane existierte, mehr auch nicht. Sie war eigentlich die große Verliererin gewesen, denn Jane
Weitere Kostenlose Bücher