0341 - Die Nadel der Cleopatra
den Arm.
Und damit auch den Stab.
Obwohl Shao es aus sich heraus nicht wollte, bekam sie den Befehl, ihren rechten Arm auszustrecken.
Das tat sie auch. Und schon Sekundenbruchteile später berührte sie der Stab.
Der Schrei blieb Shao im Halse stecken. Die Welt um sie herum veränderte sich.
Licht, Blitze und gleichzeitig aus der Ferne kommende dunkle Schatten schluckten sie wie ein gieriges Maul.
Einen Lidschlag später war die Stelle, wo Shao und die fremde Frau gestanden hatten, leer…
***
Suko stöhnte auf, als hätte er eine schwere Last zu tragen. Kenne sich da einer in den Frauen aus! Er jedenfalls nicht. Jetzt war er einige Jahre mit Shao zusammen und hatte angenommen, sie zu kennen, und dann passierte so etwas.
Sie ging einfach weg und ließ ihn am Ufer der Themse und auf dem Victoria Embankment stehen. Suko schaute über die breite Straße. Nein, Shao kehrte nicht zurück. Sie war längst in der Menschenmasse verschwunden und saß bestimmt in einem der zahlreichen Bierlokale auf der gegenüberliegenden Seite.
Suko ging das Problem realistisch an. Wenn er ehrlich war, mußte er zugeben, daß eigentlich er daran die Schuld trug. Er hätte nicht nur von seinen Problemen reden sollen. John und Bill mußten auch mal allein zurechtkommen. Zu sehr hatte er Shao in der letzten Zeit allein lassen müssen, da war es nur natürlich gewesen, daß sich die beiden einen lockeren Abend machen wollten.
Er hatte ihn seiner Partnerin verdorben. Als Suko zu diesem Entschluß gekommen war, dachte er gleichzeitig weiter und beschloß, die Sache wieder ins reine zu bringen.
Er wollte sich bei Shao entschuldigen.
Suko stieß sich vom Gitter ab. Es standen ihm zahlreiche Lokale zur Verfügung, die er durchsuchen mußte. Eine halbe Stunde würde es sicherlich dauern. Zudem glaubte er nicht daran, daß Shao nach Hause gefahren war. Dort konnte sie sich kaum amüsieren.
Er blickte nach links und sah automatisch die hohe schlanke Steinsäule, die wie eine Nadel in den Himmel ragte. Und eine Nadel sollte der Obelisk auch darstellen, denn dieser Granitfinger trug den Spitznamen »Nadel der Cleopatra«.
Sie war ein Kunstwerk und wurde bewacht von zwei steinernen Löwen mit Frauenköpfen.
Den Sphinx!
Dieses Denkmal gehörte zu den Touristenattraktionen am Victoria Embankment und war für viele Amateurfotografen ein beliebtes Zielobjekt. Sukos Blick streifte das Denkmal nur. Er wollte seinen Kopf schon abwenden, als er mit den Augen zwinkerte.
Für einen winzigen Moment hatte sich die Struktur der Nadel verändert. Ein heller Schein war von oben nach unten durch ihren »Leib« gefahren und hatte sie durchsichtig werden lassen. Im nächsten Augenblick war es vorbei. Die Nadel stand wieder so da wie zuvor.
Suko hob die Schultern. Er glaubte an eine Täuschung. Wahrscheinlich war das konzentrierte Licht der Autoscheinwerfer für einen Moment über das Denkmal gehuscht und hatte es deshalb so aussehen lassen.
Kein Grund zur Beunruhigung…
Suko mußte genau an der Ampel stehenbleiben, wo auch Shao die Straße überquert hatte. Die Anzahl der vorbeirollenden Wagen bildete eine fast nie abreißende Reihe. Laternenlicht fiel auf den farbigen Lack der Karossen und ließ diese aussehen wie bunte Spiegel.
Auspuffgase wehten wie dünne Nebelschleier. Heiße Musik schallte aus Radios oder Recordern. Jeder junge Londoner, der nicht zu Hause sitzen wollte, versuchte an diesem Tag noch einmal den lauen Abend zu genießen, und manche schauten mit gierigen Blicken, ob sie etwas aufreißen konnten.
Auch Suko war eingekeilt von wartenden Menschen. Er vernahm ihre Stimmen. Jede klang anders. Eins allerdings hatten sie gemeinsam. Eine gewisse Portion an Hektik und Erwartung. Oft genug klang das Lachen unecht. Die Leute selbst steckten voller Unruhe.
Sie schoben, drängten und konnten nicht ruhig auf der Stelle stehen, denn niemand wollte es versäumen, die Straße bei der ersten Grünphase zu überqueren, um so rasch wie möglich die Bierlokale auf der anderen Seite zu erreichen.
Endlich schaltete die Ampel um. Direkt hinter Suko hatten junge Leute eine Kette gebildet. Sie hakten sich gegenseitig ein und stürmten mit lauten Rufen auf den Lippen los.
Ob Suko wollte oder nicht, er wurde unweigerlich vorangeschoben. Als er sich etwa auf der Fahrbahnmitte befand, noch dicht vor der Baumallee, die zwei Straßenseiten trennte, geschah es.
Die Schreie übertönten alles.
Und sie flogen wie eine Schallwoge von der anderen Straßenseite
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