0353 - Flucht vor dem Grauen
der Tat konnten wir uns die Öffnungen, durch die wir klettern wollten, aussuchen. Sie befanden sich rings im Mauerwerk verteilt.
Vier Fenster zählte ich.
Und alle waren groß genug, um uns hindurchzulassen. Meiner Schätzung nach befanden wir uns in einem kleinen vorgebauten Erkerturm, allerdings ziemlich hoch über dem Boden, das stellte ich mit einem flüchtigen Blick durch die glaslosen Luken fest.
»Wie sieht es aus?« fragte Ali.
»Nicht gut. Wenn wir springen, können wir uns den Hals brechen.«
Ali rieb sich die Nase. »Sollen wir klettern?«
»Das ist die einzige Chance.«
Damit hatte ich weder gelogen noch etwas hinzugedichtet. Die Außenmauer des Turms war nicht glatt. Sie besaß Vorsprünge, Kanten, Vertiefungen und Risse. Halt würden wir überall bekommen.
Das ungute Gefühl blieb.
Im Turm selbst war es nicht ruhig. Jetzt, wo wir unseren Atem allmählich unter Kontrolle gebracht hatten, hörten wir es erneut. Ein Rumoren und Grummeln durchquoll die Mauern. Es hörte sich an wie ein noch fernes Gewitter, und zwischendurch wurde es durch das Jammern und kauzigen Schreien der Eingemauerten unterbrochen.
Ich schluckte ein paarmal. Irgendwie hatte ich das Gefühl, einen trockenen Magen zu bekommen, und auch Ali hatte den Ernst der Lage richtig erkannt.
»War wohl doch nicht so gut, daß wir es mit dem Kreuz angegangen haben – oder?«
»Doch, es war gut.«
»Aber wir können nicht mehr raus. Dieser Turm stürzt irgendwann zusammen, dann werden wir unter dem Mist begraben.«
»Wir müssen es eben jetzt versuchen!« schlug ich vor und ging auf das nächstliegende »Fenster« zu.
Ich hatte es kaum erreicht, als ich das Beben unter meinen Füßen spürte. Es war ein erster Stoß, der auch uns traf, und dabei blieb es nicht, denn innerhalb des Bodens hatte sich etwas verschoben. Dicht vor Alis Füßen öffnete sich die Erde. Heraus fuhr eine lange Knochenhand, die ihn fast noch erwischt hätte, wenn er nicht rasch zurückgesprungen wäre. Er blieb stehen und preßte seine Hände gegen das Gesicht. »Verdammt, John, im Boden stecken sie auch.«
Ja, sie steckten da und jammerten. Ich hörte ihr Schreien, umging die Hand, vernahm wieder ein Knirschen und spürte, daß etwas von der Decke rieselte.
Der Staub und die kleineren Steine erwischten mich im Nacken.
Ich schüttelte das Zeug ab und warf einen Blick hoch zur Decke, wo die ersten Risse entstanden waren. Ich folgte ihrem Verlauf mit dem Lichtstrahl meiner kleinen Lampe.
Etwas drückte von innen dagegen. Nicht mehr lange würde sich die Decke halten können.
Was sollten wir tun?
Es war riskant geworden, aus dem Fenster zu klettern. Und nicht allein deshalb, weil draußen zahlreiche Monstren und Ungeheuer wie eine Meute blutgieriger Bestien über uns herfallen würden.
»John, ich glaube, es wird kritisch!«
Ali hatte einen Blick in die Runde geworfen und verzog das Gesicht. Er sah dabei aus, als würde er bitterböse lächeln.
»Das Gefühl habe ich auch«, gab ich zu.
»Dann tu was dagegen. Du bist doch der große Meister.«
»Das werde ich auch.«
Ali kam einen Schritt auf mich zu. »Und was?«
»Ich kann versuchen, die Mauer einzuschlagen.«
Er schaute mich so ungläubig an, daß ich lachen mußte. »He, bist du Supermann?«
»Das nicht gerade, aber ich kenne da eine Möglichkeit. Es kann uns zum Vorteil gereichen, daß die Wände oder Mauern magisch aufgeladen sind.« Ali hörte mir kaum zu, denn er hatte mit weit aufgerissenen Augen zugeschaut, wie ich während meiner Worte den silbernen Bumerang hervorholte.
»Was ist das denn?« flüsterte er.
»Ein Bumerang.«
»Na und?«
Ich lächelte ihn an. »Unter Umständen wird er uns den Weg in die Freiheit verschaffen.« Mit der linken Hand schob ich ihn zur Seite und gab ihm auch meine Lampe wieder. »Halte sie gut fest.« Nach diesen Worten holte ich weit aus.
Ali schaute mir zu. Seine großen, braunen Augen waren ebenso aufgerissen wie der Mund, und die Haut am Hals bewegte sich, als würde er unsichtbare Klöße schlucken.
Das Knacken, Schreien und Jammern nahm zu. Es hinterließ auf meinem Rücken eine Gänsehaut und erinnerte mich auch daran, daß es allmählich Zeit wurde.
Lange konnte ich nicht mehr warten.
Also schleuderte ich die Waffe.
Mit Schwung brachte ich den rechten Arm nach vorn. Der Bumerang löste sich aus meiner Hand, jagte als blitzendes Etwas durch die von der Decke quellenden Staubwolken, beschrieb mehrere Kreise in der Luft und hämmerte wuchtig
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