0356 - Die Frau, die zweimal starb
schaute in die Gesichter der Zuhörer. Jedes einzelne kam ihr vor, als gehörte es zu einem Ankläger, der sie auf die Gerichtsbank ziehen wollte, um ihr zu beweisen, wie schlecht sie war. Ein bitteres Lächeln umzuckte die Lippen der blonden, so zerbrechlich wirkenden Frau. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.
»Ja, es tut mir aufrichtig leid.«
Der Mann war nicht zufrieden. »Ist das alles?« fragte er.
Gabriela schaute ihn an. Er machte einen überheblichen und selbstzufriedenen Eindruck. Dieser Mensch gehörte zu den Typen, die über Leichen schritten, wenn es um seinen Vorteil ging. »Ja, es ist alles, mein Herr. Was soll ich Ihnen noch sagen?«
»Eine verdammt billige Ausrede haben Sie für Ihr Gespiele. Wir sind hier andere Sachen gewöhnt, bessere Künstler. Ich weiß wirklich nicht, was die Fachpresse an Ihnen findet. Sie sind schlecht, ganz einfach schlecht, Miß di Fanti.«
»Ja, ich war schlecht.« Gabriela hob die Schultern. »Und ich kann es nicht mehr rückgängig machen. Es tut mir schrecklich leid, jeder hat mal einen schwachen Tag.«
»Sie hätten sich eben besser auf dieses Konzert vorbereiten oder es absagen sollen. Dann wäre uns wenigstens eine solche Enttäuschung erspart geblieben.«
»Im Prinzip gebe ich Ihnen recht«, erwiderte die Pianistin mit schwacher Stimme. »Aber haben Sie nur gute Tage?«
»Was hat das denn mit mir zu tun?« regte sich der Mann auf. »Ist es mein Job oder der Ihrige? In meiner Firma sorge ich schon dafür, daßalles klappt. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Lassen Sie die Frau doch in Ruhe!« Aus der drittletzten Reihe bekam Gabriela Unterstützung. »Wir alle sind nur Menschen, jeder von uns hat mal einen schlechten Tag.«
Nach diesen Worten erntete der Sprecher auch von anderen Zuhörern Zustimmung. Eine Diskussion brach an, und Gabriela sah sich genötigt, einzugreifen. Sie stand auf und fühlte den plötzlichen Schwindel, so daß sie sich am Flügel abstützen mußte.
»Entschuldigen Sie!« rief sie mit lauter Stimme. »Bitte, meine Herrschaften, geben Sie doch Ruhe!«
Es dauerte eine Weile, bis sie sich Gehör verschaffen konnte.
Dann endlich sagte sie die Sätze, die ihr schon seit der Pause auf dem Herzen lagen. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich mich nicht mehr in der Lage fühle, das Konzert fortzusetzen. Und dafür möchte ich mich bei Ihnen allen entschuldigen. Es sind Dinge eingetreten, die ich selbst nicht steuern kann. Manchmal kommt eben alles zusammen. Und man ist dann nicht in der Lage, eine Höchstleistung zu vollbringen. Ich hoffe, einige von Ihnen haben dafür Verständnis.«
»Ich nicht!« rief der Sprecher und drehte sich abrupt um. Er war der erste, der zur Tür schritt. Seine Begleiterin, eine junge rothaarige Frau, ging mit ihm. Sie versuchte Würde auszustrahlen, und ihr Gesicht zeigte einen arroganten Ausdruck.
Gabriela di Fanti aber ließ sich wieder auf ihren Hocker fallen. Sie schaute auf die Klaviatur, und plötzlich begann sie, den Flügel zu hassen.
Sie starrte die schwarzen und weißen Tasten an, wobei sie das Gefühl hatte, als würden sich diese in der Farbe verändern und plötzlich inmitten einer anderen Landschaft schweben.
Sie selbst kam sich vor wie auf Wolken. Sie sah Staubwolken, die es nicht gab, sie hörte Wasser rauschen, das nicht existierte, und sie sah eine Treppe, die in die Tiefe führte, wobei jede Stufe durch ein Gesicht gezeichnet war.
Die Erinnerung war schlimm. Sie brandete förmlich auf sie nieder, und Gabriela schaffte es nicht, mit ihr fertig zu werden. Erschöpft blieb sie hocken. Dabei merkte sie kaum, daß ihr Kopf nach vorn sank und die langen, blonden Haare mit ihren Spitzen über die Tasten strichen.
Aus der Lücke im Vorhang hinter ihr löste sich eine Gestalt. Es war ein Mann im dunklen Anzug. Er hatte die Aufgabe eines Bühnenleiters übernommen, eines Inspizienten.
Hastig lief er auf Gabriela zu, während sich der Saal allmählich leerte und manche Gäste einen nachdenklichen oder bedauernswerten Blick auf die Pianistin warfen.
»Was ist denn los?« Gabriela spürte die Hände auf ihren Schultern. »Bitte, sagen Sie etwas! Fühlen Sie sich nicht wohl?«
Die Frau hob den Kopf. Ein Lächeln zuckte über ihr schmales Gesicht. »Danke, Mr. Derkham, es geht schon.«
»Nein, Sie sind krank.«
»Finden Sie?«
»Ja, und ich werde einen Arzt holen.«
»Der kann mir nicht helfen, Mr. Derkham.« Gabriela schüttelte den Kopf. »Nein, das ist etwas anderes. Diese Krankheit hat
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