0356 - Die Frau, die zweimal starb
war, aber das Publikum verlangte es, und das Publikum allein zählte. Es war gnadenlos. Es verteilte Ovationen, oder es pfiff die Menschen aus.
In der Garderobe wurde es der Pianistin plötzlich zu eng. Sie fühlte sich eingekesselt und regelrecht bedroht, deshalb stand sie mit einem Ruck auf und griff nach dem Mantel, den sie über ihr Kleid warf. Wenn sie die Garderobe verließ, würde sie wieder anfangen zu frieren. Deshalb der Schutz gegen die Kühle.
Niemand hielt sie auf, und niemand erwartete sie auch auf dem Gang, der so kalt und angsteinflößend wirkte, denn an den Wänden brannte nur noch die Notbeleuchtung.
Ein richtiges Ziel hatte sie eigentlich nicht, bis ihr einfiel, daß sie sich der Bühne zuwenden könnte. Dort stand der Flügel. Er hatte ihr in all den Jahren Hoffnung und Erfolg vermittelt. Vielleicht konnte sie sich, wenn sie sich vor ihn setzte, wieder fangen und auch einen gewissen Lebensmut wiederfinden.
Den Weg zur Bühne kannte sie im Schlaf. Durch die zahlreichen Proben war ihr die Strecke in Fleisch und Blut übergegangen. So ging sie, ohne nach links und rechts zu schauen.
Eine einsame Frau tauchte ein in die Leere eines verlassenen Theaters. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein. Gabriela glaubte, verfolgt zu werden. Überall hockten die Unsichtbaren, die ihren Weg genau markierten. Sie waren wie Schatten, wie eine flüsternde Brut und hatten die Arme ausgestreckt, um sie zu greifen.
Boten waren sie.
Boten aus dem Totenreich…
Die junge Frau verzog das Gesicht. Plötzlich wußte sie, daß sie den nächsten Morgen nicht mehr erleben würde. Eine furchtbare Vergangenheit hatte sie eingeholt.
Myxin war in der Nähe!
War er gekommen, um sie zum zweitenmal umzubringen. Würde er sie wieder auf so grausame Art und Weise töten wollen, wie vor langer, langer Zeit? Wenn sie daran dachte, wurde die Angst noch schlimmer, und Gabriela beschleunigte ihre Schritte, denn sie wollte so rasch wie möglich ihr Ziel, die Bühne, erreichen.
Den Vorhang sah sie. Vom Schnürboden hing er herab und scheuerte mit seinen Enden über den staubigen Holzboden.
Wo befand sich die Falte, damit sie durchschlüpfen konnte?
Gabriela wußte es nicht. Ihre Hände verkrallte sie in den Stoff, sie fühlte zwischen ihren Fingern die Falten und suchte verzweifelt nach dem offenen Durchschlupf, der sie zur Bühne brachte.
Endlich hatte sie ihn gefunden. Sie riß den schweren Vorhang im unteren Drittel ein Stück zur Seite, so daß der Spalt für sie groß genug war, um hindurchschlüpfen zu können.
Fast hätte sie sich verhakt, doch sie schaffte es und wunderte sich, daß die Bühne noch so hell erleuchtet war. Normalerweise schaltete der Inspizient das Licht aus.
In diesem Fall war es wieder eingeschaltet worden.
Und zwar von den beiden Männern in den dunklen Anzügen, die den Flügel einrahmten…
***
Sheila und Bill Conolly waren überrascht, als sie die Menschen sahen, die vom Theater her zu den geparkten Wagen strömten und dabei heftig diskutierten.
»Da stimmt was nicht«, sagte Bill. Er schaute auf seine Uhr. »Die Vorstellung ist doch nicht beendet.«
Seine Frau gab ihm recht. »Es ist gerade die Pause vorbei.«
»Dann ist etwas passiert.« Bill wollte aussteigen, doch Sheila hinderte ihn daran.
»Laß mich fragen.«
Bill hatte nichts dagegen. Sheila öffnete den Wagenschlag und drückte sich aus dem Porsche. Sie schritt geradewegs auf ein Ehepaar zu, das in die Nähe des Wagens gelangte.
Die beiden blieben stehen, als sie von Sheila angesprochen wurden. Sie redeten nicht lange. Sheila nickte ein paarmal, bedankte sich lächelnd und stieg wieder ein.
»Und?« fragte Bill.
»Abgebrochen. Das Konzert wurde abgebrochen.«
Der Reporter war überrascht. »Aber wieso? Welch einen Grund hat man gehabt?«
»Man nicht, mein Lieber. Es war Gabriela di Fanti, die nicht mehr wollte.«
»Gab es einen Grund?«
»Die Leute konnten nur raten. Angeblich hat sie so etwas Ähnliches wie einen Schwächeanfall erlitten?«
»Ist sie zusammengebrochen?«
»Auch nicht. Nur gegangen.«
Bill nickte. »Das ist seltsam, verdammt seltsam«, flüsterte er.
»Was steckt dahinter?«
»Dein Besuch, Bill.«
»Meinst du?«
»Natürlich. Du mußt die Frau völlig durcheinandergebracht haben, wenn du von ihrem Mörder gesprochen hast, der sich bereits in ihrer Nähe befindet.«
»Aber das war vor langer Zeit.«
»Was spricht dagegen, daß sich so etwas nicht wiederholen könnte?«
»Moment.«
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