0356 - Die Frau, die zweimal starb
mit dem Körper nichts zu tun. Sie kommt aus der Seele, wenn Sie verstehen, was ich damit meine.«
»Nein.«
»Ist auch nicht schlimm. Bitte, ich möchte in meine Garderobe und dort ein Glas Wasser trinken.«
»Ich begleite Sie. Kommen Sie mit!«
Der Inspizient half der Frau vom Hocker. Noch immer fühlte Gabriela den Schwindel. Sie hatte mit diesem Anfall zwar gerechnet, aber nicht, daß er so schnell kommen würde. Sonst hatte sich zwischen den einzelnen Anfällen eine immer größere Distanz befunden.
Diesmal überfielen sie die Anfälle sehr schnell hintereinander, und sie wußte, daß sie sich in einer entscheidenden Phase befand.
Der Mann stützte sie ab. Wie eine Schwerkranke ging Gabriela neben ihm her. Sie fühlte sich so unendlich matt und hatte sogar Mühe, die Füße vom Boden zu heben.
Erst als sie das helle Licht der Bühne verlassen und hinter den Vorhang gelangt waren, ging es ihr besser. Dort blieb sie stehen, um zunächst einmal tief durchzuatmen.
Gleichzeitig machte sich der Temperaturwechsel bemerkbar, und sie spürte die Kühle, die eine Gänsehaut auf ihrem Rücken erzeugte, so daß sie sich schütteln mußte.
»In der Garderobe ist es wärmer«, sagte Derkham, der gesehen hatte, wie die Frau fror.
»Danke…«
Er brachte die Pianistin durch den Gang zurück in den Raum, der für sie reserviert war. Hier ließ sich Gabriela auf einen Stuhl fallen, schaute in den Spiegel und erschrak über sich selbst.
Bevor sie irgend etwas anderes unternahm, schickte sie ihren Helfer hinaus. Sie bedankte sich noch einmal und preßte, nachdem der andere gegangen war, die Hände gegen ihre Wangen.
Dann begann sie zu weinen. Es war ein lautloses Schluchzen, das nur ihren Körper schüttelte, und sie spürte gleichzeitig, daß ein anderes Gefühl in ihr hochstieg.
Die Angst.
Ja, die Furcht vor der Vergangenheit, die sich mit Riesenschritten näherte und sie einholen wollte. Sie stand dicht davor, in ein Leben gepreßt zu werden, das längst hinter ihr lag, und ein Name hämmerte förmlich hinter ihren Schläfen.
Myxin!
Er war da, er befand sich in der Nähe, und sie spürte, daß er bald auf sie zukommen würde.
Ihre Arme sanken nach unten. Wieder sah sie ihr Gesicht. Es wirkte so blaß, die Haut war dünn, durchscheinend, so daß sie sogar die Knochen erkennen konnte.
Grau malten sie sich unter der dünnen Haut ab. Ein furchtbares Bild, denn Gabriela di Fanti sah im Spiegel unter der Haut ihr eigenes Skelett.
Vor Angst zitterte sie. Die Zähne klapperten aufeinander. Der Schüttelfrost kam über sie, ohne daß sie etwas dagegen hätteunternehmen können. Sie spürte die Zange der Angst, die mit gewaltigen Backen und von beiden Seiten auf sie zukam, um sie in ihre Mitte zu nehmen und zu erdrücken.
Es waren schreckliche Minuten, die Gabriela durchmachte. Zudem fühlte sie sich so unsagbar allein. Niemand würde ihr helfen können, niemand hatte ihr je geholfen. Im Gegenteil, man hatte sie immer ausgenutzt, auch die beiden Männer, die sich oft genug in ihrer Nähe aufhielten. Sie wunderte sich darüber, daß sie noch nicht erschienen waren und hatte den Gedanken kaum gedacht, als sie vom Gang her Schritte vernahm.
Waren das die Männer?
Als die Tür geöffnet wurde, wagte sie es nicht, sich herumzudrehen. Sie starrte in den Spiegel und konnte erkennen, wer die Garderobe betrat.
Es war der Inspizient. Er hatte ein Glas Wasser gebracht und in der Flüssigkeit eine Tablette aufgelöst. »Ich konnte Sie doch nicht so sitzen lassen«, erklärte er. »Hier, trinken Sie.«
»Danke.«
Der Mann wartete, bis Gabriela das Glas geleert hatte. Dann fragte er: »Was werden Sie jetzt machen?«
»Ich bleibe noch im Theater.«
»Allein?«
»Ja. Warum nicht?«
»Nun, ich meine, ich würde Ihnen gern helfen, aber ich habe meiner Frau versprochen, nach Hause zu kommen…«
»Sie können natürlich gehen.« Gabriela lachte. »Ich mache Ihnen doch keinen Vorwurf.«
»Danke, das finde ich gut. Wissen Sie, es ist nicht einfach für mich, Sie allein zu lassen. Irgendwie mag ich Sie, Gabriela.« Mit einem Handkuß verabschiedete sich der Inspizient und ließ die Pianistin allein zurück.
Diesen Abend hätte sie sich auch anders vorgestellt. Viel triumphaler, statt dessen war sie völlig aus dem Rhythmus gekommen, und sie fragte sich, ob man ihr diesen Fehler überhaupt noch verzeihen würde. Daswar schwer. Wer einmal oben war, mußte immer Höchstleistungen vollbringen, obwohl dies manchmal nicht möglich
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