037 - Die seltsame Gräfin
verstanden?«
Wieder schüchterten ihn die drohenden Augen seiner Mutter ein.
»Es verletzt mich nicht, Selwyn, und du hast auch keinen Grund, anzunehmen, daß sich meine Sekretärin beleidigt fühlen könnte.«
Er senkte den Blick, murmelte etwas Zusammenhangloses und schlich sich schuldbewußt aus dem Raum. Lois wäre ihm gern gefolgt, aber sie fand keine Entschuldigung. Gleich darauf verabschiedete die Gräfin Chesney Praye.
»Sie müssen jetzt gehen, Chesney. Ich möchte mit Miss Reddle ein wenig sprechen.«
Chesney verneigte sich mit seinem stets bereiten Lächeln formvollendet vor ihr. Er beugte sich nieder, um ihre große, weiße Hand zu küssen, die mit so vielen Juwelen geschmückt war, daß Lois neugierig war, ob er sich nicht die Lippen daran schneiden würde.
»Ich hoffe, Sie bald wiederzusehen, gnädiges Fräulein«, sagte er lebhaft, als er Lois' Hand mit unnötigem Druck schüttelte und seinen strahlenden Blick nicht von ihr wandte. »Ich darf ihr London ein wenig zeigen, nicht wahr, Gräfin? Ist sie vom Lande?«
»Miss Reddle lebt schon einige Jahre in der Stadt«, sagte Lady Moron, und ihr tadelnder Ton würde die meisten Menschen entmutigt haben weiterzusprechen. Aber Mr. Chesney gehörte nicht zu ihnen.
»Wahrscheinlich hat sie aber noch nicht die interessanten Dinge gesehen, die ich ihr zeigen werde. Vielleicht erlaubt Mylady, daß Sie einmal abends ausgehen und im Klub speisen. Tanzen Sie?«
»Wenn es mir gestattet ist, mir meine Partner selbst zu wählen, tanze ich sehr gern«, sagte Lois.
»Sie werden mich wählen«, erwiderte er, »ich bin ein ausgezeichneter Tänzer!« Und damit empfahl er sich.
Erst einige Zeit nachdem sie allein waren, sprach Lady Moron. Sie stand noch am Fenster und hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt.
Sie blickte auf den Platz hinunter, und Lois dachte, sie hätte ihre Angelegenheiten vergessen.
»Es ist heute nichts für Sie zu tun«, sagte die Gräfin, ohne den Kopf zu wenden. »Ich habe alle meine Briefe schon beantwortet. Wir speisen um halb zwei, und Sie nehmen die Mahlzeiten natürlich mit uns zusammen ein. Um acht Uhr wird zu Abend gegessen. Es ist Ihnen gestattet, jeweils am Nachmittag zwischen fünf und zehn Uhr auszugehen, und die Weekends, die ich auf dem Lande verbringe, gehören Ihnen. Das ist zunächst alles. Ich danke Ihnen, Miss Reddle.«
Nach dieser Verabschiedung ging Lois in ihr Zimmer. Sie wußte aber nicht, was sie während der kurzen Zeit bis zum Essen noch beginnen sollte.
Als Chesney Praye das Haus am Chester Square verließ, sah er sich nach rechts und links um und entdeckte sofort den Gesuchten. Nachlässig stand er an der Ecke der Straße und wandte ihm den Rücken zu. Chesney zögerte einen Augenblick, dann ging er entschlossen auf den scheinbar nichtsahnenden Michael Dorn zu.
»Sehen Sie mal an, Dorn!«
Der Detektiv wandte sich langsam um »Guten Morgen«, sagte er und hob die Augenbrauen, als ob Praye der letzte gewesen wäre, den er zu dieser Zeit hier erwartet hätte.
»Warum sind Sie hinter mir her?«
»Hinter Ihnen her? Ach, Sie meinen, daß ich Ihnen folge?«
»Was wollen Sie von mir?« fragte der andere grob.
Dorn schaute ihn nachdenklich an.
»Haben Sie den Eindruck, daß ich hinter Ihnen her bin?«
»Ich habe nicht den Eindruck - ich weiß es!« Chesneys Gesicht färbte sich dunkler. »Ich sah Sie heute morgen ganz genau, als ich aus meiner Wohnung in der St. James' Street kam, und dachte, Sie seien zufällig dort. Einer Ihrer Spürhunde war im Limbo-Klub und hat die Kellner ausgehorcht. Was wollen Sie von mir?«
»Ich bin neugierig«, murmelte Michael, »ich bin nur neugierig. Ich bin dabei, ein Buch über ungewöhnliche Verbrechen zu schreiben, und darin sind natürlich ein paar Seiten für Sie reserviert.«
Chesney Prayes Augen waren nur noch Schlitze, als er Michael an der Weste faßte.
»Ich will Ihnen einen guten Rat geben, Dorn«, sagte er. »Lassen Sie die Finger davon - oder Sie werden sich verbrennen!«
»Ein guter Rat ist des andern wert«, entgegnete der Detektiv.
»Nehmen Sie Ihre Hand von meiner Weste, oder Sie bekommen einen Fußtritt!«
Er sagte das in der höflichsten Art, aber der aufgeregte Mann wußte, daß jedes Wort so gemeint war, wie es gesagt wurde, und zog seine Hand zurück. Bevor er sich wieder in der Gewalt hatte, sprach Dorn weiter.
»Sie haben einen guten Posten, Praye - verlieren Sie ihn nicht. Ich weiß, daß Sie eine sehr vornehme Dame in finanziellen
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