037 - Die seltsame Gräfin
diese Unfälle, daß der alte Braime in der Bibliothek wie tot umfiel und dergleichen. Die Gräfin ist meine Mutter, und ich sollte sie eigentlich nicht erzürnen. Aber sie ist ein fürchterlicher Teufel, Miss Smith, ein ganz entsetzlicher Teufel!«
Er strich über die lange, schmale, rote Narbe auf seiner Wange.
»Sie können niemals wissen, was sie im Schilde führt.
Seit dieser Schuft, dieser Praye, und der betrunkene Doktor im Hause verkehren, ist sie schlimmer als jemals. Wissen Sie, was sie mir einmal zurief? Sie sagte, daß ich morgen tot sei, wenn das ihrer Meinung nach besser für sie wäre - das sind ihre eigenen Worte! Denken Sie, morgen tot, meine liebe Lizzy - ist das nicht schrecklich?«
»Was für eine Frau!« sagte Lizzy.
»Aber haben Sie niemals etwas davon gehört - ich meine Gallows Farm?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie redet niemals in meiner Gegenwart, aber sicher hat sich etwas ereignet, das ist gewiß. Dieser Chesney war schon seit heute morgen um acht Uhr bei der Gräfin. Man sagte Ihnen, daß sie noch zu Bett liege - das war gar nicht wahr, sie war in der Bibliothek. Das Telefon scheint die ganze Nacht geläutet zu haben. Was halten Sie eigentlich von diesem Detektiv, der das junge Mädchen ins Gefängnis gesteckt hat? Das ist doch ein starkes Stück, nicht?«
»Er tat es aus einem sehr guten Grund«, sagte Lizzy geheimnisvoll. »Ich kann Ihnen nicht alles sagen, Selwyn. Eines Tages werden Sie die ganze Wahrheit erfahren.«
»Es scheint, daß mir niemand etwas sagen darf«, bemerkte er mißmutig. »Aber was hat der Brief zu bedeuten? Jemand hat sie in dem Gehöft mit dem schrecklichen Namen eingesperrt.« Er schlug sich vor die Stirn. »Tappatt, der Kerl, der den Wein immer so hinuntergießt - Sie kennen ihn doch, den fürchterlichen Doktor? Ich wette, daß er bei der ganzen Sache eine schurkische Rolle spielt. In den letzten Tagen ist er nicht hier gewesen - vorher hat er häufig hier herumspioniert.« Er schlug sich aufs Knie. »Gestern abend kam doch tatsächlich ein Fernruf vom Lande! Ich war in der Halle, als das Telefon klingelte, und ich bin sicher, daß es dieser Tappatt war. Er wollte die Gräfin sprechen. Gallows Farm! Das ist doch der Ort, wo er lebt.«
Plötzlich sprang er auf, und Lizzy sah die Erregung in seinen Augen.
»Sie ist dort, ich will jede Summe wetten - Gallows Farm in Somerset!« Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe doch irgendein Schriftstück, eine Kaufurkunde unterschrieben, darauf möchte ich schwören. Es gehört zu den Ländereien, die die Gräfin vor zwei oder drei Jahren gekauft hat. Auch möglich, daß es einer ihrer Anwälte für sie tat. Sie kauft immer alte Besitzungen auf und veräußert sie wieder mit Gewinn. Und ich weiß auch, daß dieser alte Doktor irgendwo eine Anstalt hat - denn die Gräfin hat mir schon öfters gesagt, sie würde mich dorthin schicken, wenn ich mich nicht in acht nehme. Dieser Kerl mit der roten Nase hat sicher Miss Reddle bei sich eingesperrt.«
»Selwyn, Sie sind ja wie ein Detektiv!« rief Lizzy atemlos vor Bewunderung.
Er drehte an seinem dünnen Schnurrbart und war beglückt.
»In manchen Dingen bin ich sehr klug«, sagte er. »Wie wäre es, wenn wir sie befreiten?« fragte er impulsiv.
»Was wollen Sie?« Lizzys Herz schlug schneller.
»Ich meine, wenn wir sie befreiten?« nickte er. »Wir könnten doch nach Somerset fahren, den alten Doktor besuchen und ihm sagen: Sehen Sie, alter Kerl, solche Dinge können in der zivilisierten Gesellschaft nicht geduldet werden, lassen Sie die Hand von Miss Reddle, oder es geht Ihnen schlecht.«
Lizzys Begeisterung war schnell verschwunden.
»Ich glaube nicht, daß das großen Eindruck auf ihn machen würde«, meinte sie. »Auch wäre es unnötig, Selwyn, denn wenn Michael Dorn dort ist, wird sie heute nachmittag noch befreit.«
Selwyn war etwas verletzt.
»Außerdem - was würde denn die Gräfin sagen, wenn wir den ganzen Tag wegblieben?« fuhr Lizzy fort.
»Auf die gebe ich gerade noch so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Ich habe genug von ihr, wirklich genug! Ich habe mir überlegt, daß ich jetzt mit Chester Square Schluß machen werde. Ich habe mich schon umgesehen, da ist eine ganz nette kleine Wohnung in Knightsbridge. Es ist an der Zeit, daß ich mich selbständig mache. Ich habe die Absicht, demnächst inkognito zu leben, und ich werde mich dann Mr. Smith nennen.«
»Tatsächlich?« fragte Lizzy kühl.
»Das ist doch ein ganz
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