037 - Die seltsame Gräfin
heiter. Sie hörte, wie Selwyn aufatmete.
»Ach so, Sie sind es! Hier war ein furchtbarer Trubel -das ist immer so zwischen sechs und sieben morgens. Dieser schreckliche Vagabund, der Chesney Praye - Sie erinnern sich doch an den Kerl - der Raubvogel - wie? (Lizzy konnte so früh am Morgen nicht darüber lachen.) Er ist mit der Gräfin in der Bibliothek.«
»Hören Sie, Selwyn«, sie mußte all ihren Mut zusammennehmen, um ihn so familiär anzusprechen, »können Sie mich besuchen? Sie wissen, wo ich wohne - Sie wollten ja sowieso zum Abendessen bei mir sein. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie früher kämen. Ich muß über eine wichtige Angelegenheit mit Ihnen sprechen, ich kann es Ihnen am Telefon nicht sagen.«
»Ich werde jetzt gleich kommen. Ich wollte eigentlich zum South Kensington Museum gehen, um einige Modelle zu studieren, aber - schon gut, Oberst, ich danke Ihnen sehr für Ihren Anruf!«
Die letzten Worte hatte er in einem lauten und offiziellen Ton gesprochen. Lizzy, der diese unschuldigen, kleinen Täuschungen auch geläufig waren, vermutete, daß der Diener oder die Mutter in den Salon gekommen war.
Sie ging in gehobener Stimmung nach Hause. Es war ihr nicht nur gelungen, sich die Hilfe eines Mitgliedes der höchsten Aristokratie zu sichern, sondern sie hatte dieses Mitglied auch kühn beim Vornamen angeredet, und das war doch ein großer Erfolg. Sie erzählte Mr. Mackenzie mit gleichgültiger Miene, daß sie gleich den Besuch Lord Morons erwarte. Diesmal machte ihre Mitteilung auf ihn wirklich den gewünschten Eindruck.
»Ich sagte ihm, er möchte doch kommen - ich kenne ihn ja sehr gut.« Lizzy wischte dabei in einer vornehmen Haltung den Staub von ihrem Kleid.
»So, so«, sagte er und schaute sie bewundernd an. »Ich hätte niemals gedacht, daß einer der Morons mein Haus betreten würde. Sie sind eine sehr alte Familie, ich erinnere mich noch an den alten Earl - er kam sehr häufig ins Theater, allerdings meist nicht in der besten Verfassung.«
Lizzy Smith interessierte sich nicht für den alten Lord, sie kümmerte sich nur um den jungen, und das allerdings in hohem Maße. Als das Taxi Selwyns am Bürgersteig hielt, stand sie schon an der Tür, um ihn hereinzulassen.
»Was für eine nette, alte Küche«, sagte er, als er sich in dem Raum umschaute, auf den nicht einmal Lizzy stolz war.
»Ich hätte Eure Lordschaft nicht hierher gebeten -«
»Ach, bitte, fangen Sie nun nicht mit ›Eurer Lordschaft‹ und dergleichen an - für meine Freunde heiße ich Selwyn«, bat er. »Da hängt ja eine wundervolle Bratpfanne -haben Sie die selbst angefertigt?«
Lizzy verneinte. Er schien seine eigenen Ansichten über Kochgeräte zu haben und hatte selbst schon eine elektrische Heizplatte erfunden. Er trug sich mit dem Plan, einen neuen elektrischen Kochherd zu konstruieren.
»Ich habe schon immer beabsichtigt, von der ganzen verrückten Lordschaft und dem ganzen verrückten Kram wegzulaufen und praktisch zu arbeiten. Ich habe nämlich auch etwas eigenes Geld, von dem die Gräfin nichts weiß.
Es ist so gut und sicher angelegt, daß weder sie noch der alte Raubvogel ihre Krallen danach ausstrecken können!«
Er war in bester Stimmung und unterhielt sich ausgezeichnet mit Lizzy, die nur so viel von Elektrizität wußte, daß eine Lampe brennt, wenn man den Schalter andreht. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, als er ihr von seinen Plänen erzählte. Selbst ein Ingenieur hätte sich dafür interessieren können, so tief war er in die Materie eingedrungen. Aber dann erinnerte sie ihn daran, daß sie den Brief mit ihm besprechen wollte.
Als sie ihm das Schreiben gab, las er es durch. Bei jeder Zeile hielt er an und bat um Erklärung, aber schließlich verstand er den Sinn. Sie hatte schon vorher beobachtet, daß Selwyn bei wirklich wichtigen Dingen ganz vernünftige Meinungen äußerte. Daß er nicht schwachsinnig war, erfuhr sie später, als er ihr erzählte, wie er die verräterische Absicht seiner Mutter durchkreuzt hatte, die ihn für verrückt erklären lassen wollte, um sein ganzes Vermögen in die Hand zu bekommen. Da er ihre Hinterlist durchschaute, konsultierte er drei hervorragende Spezialisten in der Harley Street und brachte von ihnen drei glänzende Zeugnisse über seine Zurechnungsfähigkeit bei.
»Ich kenne die Zusammenhänge nicht alle«, sagte er, als er den Brief zurückgab. Er begegnete ihrem bekümmerten Blick. »Ja, ich verstehe den Brief schon ganz gut, aber ich meine all
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