038 - Bis die Ratten dich zerfetzen
raste. Sie mußte zurück und versuchen, den
Durchlaß wiederzufinden, durch den sie aus Versehen geschlüpft war. Aber das
war einfacher gesagt als getan. In der Dunkelheit war alles gleich; es gab für
sie keine Richtung mehr.
Helen begann
zu schreien. Laut und hell brach sich ihr Rufen im Labyrinth der Gänge. Ihr kam
es mit einem Mal vor, als bestünde das Innere des Berges nur aus Löchern und
Spalten. Von überallher kehrte das Echo ihrer eigenen Stimme zurück.
Wie von
Sinnen fing sie an zu rennen. Ein Schluchzen ließ ihren Körper erbeben, und sie
merkte, wie die Furcht ständig zunahm. Man mußte sie doch hören, wenn sie
schrie, fieberte es in dem aufgepeitschten Gehirn der jungen Frau. Wollte man
sie nicht hören? In ihrer Verzweiflung kamen ihr die unsinnigsten Gedanken. Sie
wußte nicht, was sie noch machen sollte.
Helen Powell
taumelte durch die Finsternis. Die Reporterin stolperte über einen Felsblock
und schlug der Länge nach hin.
Benommen
blieb sie minutenlang liegen und spürte, wie die feuchte Kälte durch ihre dünne
Kleidung kroch. Schweratmend erhob sie sich schließlich wieder. Ihre Hände
waren zerschunden und bluteten. Sie hatte sich an dem scharfen Gestein
verletzt.
Helen wischte
sich über das Gesicht und vermengte das Blut von ihren Händen mit dem
Angstschweiß, der ihre Züge bedeckte. Wahnsinn flackerte in den Augen der
Reporterin.
Lange hielt
sie das nicht mehr durch. Sie war am Ende ihrer Kraft.
Wie ein
Stromstoß ging es plötzlich durch ihren Körper, als sie erkannte, daß es nicht
mehr so stockfinster war wie vorhin. Ganz schwach vermochte sie die Umrisse der
bizarren Felsblöcke zu erkennen. Es gab ein schwaches, graues Licht in der
Höhle.
Tageslicht?
Helen Powells
Erregung wuchs. Hatte sie es doch noch geschafft, endlich, nach über einer
Stunde der Qual, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit?
Sie konnte
kaum noch gehen. Ihre Beine versagten den Dienst. Wankend und keuchend schob
sie sich an der Felswand entlang. Vor ihr war ein Licht, das durch irgendeine
Öffnung des Berges zu fallen schien.
Aber es war
noch weit. Der Weg, den sie zurücklegen mußte, war beschwerlich. Und dann
erreichte sie endlich die Stelle, an der das Licht am stärksten war. Es fiel
durch einen hohen Schacht, und Helen hatte das Gefühl, am Fuß eines tiefen,
trockengelegten Brunnens zu stehen.
Die Röhre war
fast rund und gewaltig in ihren Ausmaßen. Überall in der Wand waren Risse,
Spalten und Löcher.
Die
Reporterin stieß mit dem Fuß gegen irgend etwas, das klapperte und schepperte.
Es hörte sich an wie trockene Knochen. Unwillkürlich senkte sie den Blick. Eine
eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen.
Es waren
Knochen! Abgenagt und gebleicht. Das Gerippe eines Menschen!
Mit einem
gellenden Aufschrei wich Helen Powell zurück und blieb wie erstarrt an die Wand
gepreßt stehen.
Da waren noch
mehr Knochen von Menschen! Totenschädel mit leeren Augenhöhlen grinsten sie an.
In dem grauen, diffusen Licht erhielt die Szenerie einen geisterhaften
Anstrich. Es war eine seltsame Mischung aus Licht und Schatten, in der die
junge Dame eine furchtbare Entdeckung machte.
Zwischen den
Knochen lag ein Skelett, an dem es noch Fleischreste gab. Eine Hand war nur
angefressen, und auch die Kleidung, die zerfetzt das Knochengerüst umschlotterte , war noch nicht verrottet.
An der Hand
steckte ein Ring, den Helen Powell nur zu gut kannte. Auch die Kleidung des
Toten war ihr nicht fremd.
»Ted«,
murmelte sie leise.
Helen Powell
war einer Ohnmacht nahe.
»Das kann
nicht sein«, flüsterte sie. Ihre bleichen Lippen zuckten. »Ted? Hier?«
Sie wollte es
nicht wahrhaben, aber es war unmöglich, die Augen vor den Tatsachen zu
verschließen.
Man hatte ihn
den Ratten zum Fraß vorgeworfen! Die esoterische Geschichte des alten Doree von Sam und den telepathisch geführten Ratten war
keine Phantasie! Demnach lebte Sam noch! Burton war auf seine Spur gestoßen und
hatte den Tod gefunden.
Warum wollte
der Alte, daß man ihn für tot hielt?
Hunderte von
Fragen drängten plötzlich nach Beantwortung.
Die
Inselbewohner steckten alle unter einer Decke. Sie schützten einen vielfachen
Mörder. Fürchteten sie ihn? Das war die Erklärung! Und das auch war der Grund,
weshalb keiner der Besucher, die in den letzten Jahren und Monaten die Insel
betreten hatten, je wieder zurückgekehrt war.
Helens
Gedankengänge wurden abrupt unterbrochen, als sie auf Geraschel aufmerksam
wurde, das aus einer endlosen Tiefe im
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