038 - Der Geistervogel
das Mädchen aus großer Höhe zu Boden gestürzt und habe sich dabei unzählige Brüche und innere Verletzungen zugezogen. Aber das konnte nicht möglich sein. Die Insel war flach, das höchste Gebäude war der Leuchtturm am Westufer, der war aber einen Kilometer entfernt.
„Wir müssen die Polizei verständigen“, sagte Jan, als er neben Haike stehen blieb, die noch immer weinte.
„Sie kann nicht tot sein”, schluchzte das Mädchen. „Vor wenigen Stunden unterhielt ich mich doch noch mit ihr. Es war vor Tagesanbruch gewesen. Wir waren hinausgegangen, um Osterwasser zu holen. Da lebte sie noch. Und jetzt ist sie tot.“
Haike stützte sich auf Jan, und langsam gingen sie weiter.
„Da fällt mir etwas ein“, sagte Haike undblieb stehen. Sie blickte Jan aus tränen verschleierten Augen an. „Ingrun erzählte mir von einem seltsamen Ereignis. Sie war nicht sicher, ob sie es geträumt hatte, oder ob es real gewesen war.“
„Erzähle“, bat Jan.
„Ingrun erzählte mir, daß ihr heute Nacht eine schwarzgekleidete Frau erschienen sei, die einen dichten schwarzen Schleier getragen hatte. Diese Frau hattesie aufgeweckt und ihr eine Warnung überbracht. Sie sagte, daß Ingrun nicht das Haus verlassen solle. Dann verschwand sie. Ingrun machte sich noch darüber lustig.
Und jetzt ist sie tot.“
Nachdenklich ging Jan weiter. Er glaubte nicht, an seltsame Erscheinungen und nicht an Träume, in denen jemand eine Warnung mitgeteilt bekam.
Er hatte mit Ingrun kaum Kontakt gehabt, sie sehr selten gesehen und dabei nur ganz kurz. Er hatte sie als lebenslustiges Ding in Erinnerung, das bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit kicherte. Ein einfaches, unkompliziertes Mädchen, das noch das ganze Leben vor sich gehabt hatte.
Für Jan gab es keinen Zweifel, daß Ingrun ermordet worden war. Er konnte sich nur nicht erklären, wie es geschah. Aber das war nicht seine Aufgabe.
„Hat Ingrun nur dir diese Geschichte erzählt, oder auch den anderen Mädchen?“
„Sie erzählte es uns allen“, sagte Haike. „Sie lachte dabei, als sie es uns erzählte, aber es war kein natürliches Lachen.
Irgendwie wirkte sie verängstigt. Aber das war sie schon seit einiger Zeit. Sie hatte vor irgend etwas Angst, doch sie sagte mir nie, wovor sie sich fürchtete.“
„Erzählte sie öfters von solchen Träumen?“ Haike schüttelte den Kopf. „Nein. Es war das erste Mal, daß sie so etwas erzählte.“
Sie erreichten die ersten Häuser, die auf künstlichen Hügeln gebaut waren, die zwischen vier und fünf Meter hoch waren und als Schutz gegen die häufigen Sturmfluten dienen sollten. Der Ort bestand aus etwa fünfzig solcher Häuser, die sich alle ähnlich sahen und sich nur in der Größe voneinander unterschieden.
Die Insel war nicht einmal zwei Kilometer lang und an der breitesten Stelle etwas mehr als einen Kilometer. Eine kleine Welt, in der einfache Menschen wohnten, die alle ziemlich arm waren. Die einzige Verbindung mit dem Festland war das tägliche Fährschiff, das von Husum Post und Lebensmittel brachte.
Die meisten Bewohner lebten vom Fischfang und im Sommer von einigen wenigen Touristen, die aber nur kurz blieben.
Der Regen war stärker geworden, kein Mensch war zu sehen.
Kommissar Elko Friedsen war vor einer Woche fünfundfünfzig geworden und konnte kaum den Tag erwarten, an dem er in Pension gehen konnte. Er war ein mittelgroßer unscheinbarer Mann mit stark gelichtetem Haar. Mit Vorliebe trug er alte, zerbeulte Hüte, die ihm das Aussehen eines Landstreichers verliehen. Seit fünf Jahren führte er einen zähen Kampf gegen seine Magengeschwüre, und er versuchte seine Leidenschaft für klare Schnäpse zu dämpfen, was ihm aber nicht recht gelingen wollte.
Er rieb sich nachdenklich die fleischige Nase, betrachtete die Tote aufmerksam und schwieg. Zusammen mit seinem Assistenten Hans-Dieter Weber, dem Polizeiarzt und dem Spurensicherungsteam war er mit einem Polizeiboot zur Insel gekommen. Friedsen stammte aus Flensburg, hatte aber vor zehn Jahren um Versetzung nach Husum nachgesucht, was auch bewilligt worden war, und seit dieser Zeit war er dort beschäftigt.
Der Polizeiarzt untersuchte das tote Mädchen gewissenhaft.
Dr. Bodo Bäumler war für seine Genauigkeit und Umständlichkeit bekannt. Er sah so aus, wie man sich einen Arzt der Jahrhundertwende vorstellte. Sein Gesicht war streng, der Kneifer verstärkte nur noch diesen Eindruck. Er war immer peinlich korrekt gekleidet, ein
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