038 - Der Rächer
Wort«, sagte er. »Mein Onkel war ein Mann von hervorragender Bildung.« Es war erstaunlich, dass der Detektiv, der eben Hals über Kopf von Griff Towers fortgestürzt war, um womöglich einen Mörder zu fassen, so ruhig dastand und sich über Memoiren unterhielt. »Manchmal kommt mir der Gedanke, dass Sie sich zuviel mit Ihrem Onkel beschäftigten, Mr. Longvale«, sagte Mike höflich. Der alte Herr runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, dass das zu einer Versuchung, ja zu einer unheilvollen Manie werden kann. Solche Heldenverehrung bringt manchmal einen Mann dazu, Taten zu begehen, die kein vernünftiger Mensch ausführen würde.« Longvale blickte erstaunt zu ihm hin.
»Kann man denn etwas Besseres tun, als die Taten eines großen Mannes nachzuahmen?«
»Nein, aber Ihre Urteilskraft ist ganz und gar in Verwirrung geraten. Sie legen ihm Tugenden bei, die in Wirklichkeit keine sind. Man kann ja schließlich auch Pflichterfüllung für eine Tugend halten - und man kann auch das, was schrecklich ist, mit dem Begriff ,groß' verwechseln.«
Mike drehte sich um, legte seine Hände flach auf die Tischplatte und sah den alten Herrn an, der seinen Blick frei erwiderte.
»Ich möchte, dass Sie heute Abend mit mir nach Chichester kommen.« »Warum?«
»Weil ich davon überzeugt bin, dass Sie ein kranker Mann sind, der der Pflege bedarf.«
Longvale lachte und richtete sich kerzengerade auf. »Krank? Ich war niemals gesünder in meinem Leben, niemals mehr auf der Höhe und niemals stärker.«
Und er sah auch wirklich so aus, wie er sagte. Seine Größe, seine breiten Schultern, seine gesunde Gesichtsfarbe, alles sprach für sein körperliches Wohlergehen. Es entstand eine lange Pause.
»Wo ist Gregory Penne?« fragte Mike, indem er jedes Wort betonte.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Der alte Mann sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Wir sprachen soeben über meinen Großonkel - Sie kennen ihn natürlich?« fragte er. »Ich erkannte dieses Bild auf den ersten Blick wieder. Ich dachte, ich hätte mein Wissen verraten, aber anscheinend habe ich das doch nicht getan. Ihr Großonkel« - Mike sprach jedes Wort mit Bedacht aus - »war Samson, mit anderem Namen Longvale, der oberste Scharfrichter von Frankreich!« Ein tiefes Schweigen folgte diesen Worten, so dass man deutlich das Ticken einer weit entfernt stehenden Uhr hören konnte.
»Er hat verschiedene Heldentaten ausgeführt ... Er hängte drei Mann an einem Galgen von sechzig Fuß Höhe, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt - und enthauptete Ludwig XVI. von Frankreich und seine Gemahlin Marie Antoinette.« Die Augen des alten Herrn glänzten vor Genugtuung und Stolz. Er schien noch mehr zu wachsen.
»Durch welch phantastische Laune des Schicksals Sie dazu getrieben wurden, sich gerade in England niederzulassen und welcher verrückte Einfall Sie dazu brachte, heimlich den Beruf Samsons auszuüben und weit und breit arme, hilflose, verzweifelte Menschen umzubringen, weiß ich nicht.«
Mike sprach mit gewöhnlicher Stimme und in ruhigem Unterhaltungston. Longvale antwortete ebenso. »Ist es denn nicht besser«, erwiderte er höflich, »dass ein Mann nicht selbst Hand an sich legt und das unverzeihliche Verbrechen des Selbstmordes begeht? Bin ich nicht ein Wohltäter für die Menschen gewesen, die nicht wagten, sich selbst das Leben zu nehmen?« »Zum Beispiel für Lawley Foß«, sagte Mike, indem er Longvale keinen Augenblick aus den Augen ließ.
»Er war ein Verräter, ein ganz gemeiner Erpresser, der glaubte, dass er Dinge, die zufällig zu seiner Kenntnis kamen, dazu gebrauchen könnte, Geld aus anderen herauszuholen.« »Wo ist Gregory Penne?« Der alte Herr lächelte ruhig.
»Wollen Sie mir denn nicht glauben - das ist sehr unhöflich von Ihnen -, ich habe Sir Gregory nicht gesehen.«
Mike zeigte auf den Kamin, wo der Rest einer Zigarette noch glomm.
»Da ist seine Zigarette«, sagte er. »Und hier sind seine schmutzigen Fußspuren auf dem Teppich - dann habe ich einen Schrei gehört ... Wo ist er?«
Mike fühlte nach seiner schweren Browningpistole in der Tasche. Eine Bewegung Longvales hätte jetzt genügt, dass Mike ihn über den Haufen geschossen hätte. Er stand einem Irrsinnigen der gefährlichsten Art gegenüber, dessen Wahnsinn darin bestand, Menschen zu morden. Er hätte keinen Augenblick gezögert, abzudrücken.
Aber Longvale zeigte gar keinen Widerstand, aus seiner Stimme sprach die Höflichkeit
Weitere Kostenlose Bücher