0398 - Herr der blauen Stadt
glitt?
Die Platte stieg unbeirrbar weiter.
Als sie die Galerie erreichte, auf der sich Nicole befand, erkannte die Französin, daß nicht die Platte entstofflicht durch die Galerien glitt, sondern daß es umgekehrt war. Sie fühlte, wie der Boden sich unter ihren Füßen auflöste. Eine halbe Sekunde zu früh wahrscheinlich, denn es gab einen kleinen Ruck, mit dem Nicole in den Stein einsank und dann von der festen Platte aufgefangen wurde.
Sollte es ihr ein Trost sein, daß diese eigenartige Technik nicht ganz fehlerfrei war und deshalb ›menschliche‹ Züge aufwies? Aber sie war sicher, daß der Schacht von keinem Menschen erbaut worden war.
Jetzt fühlte sie, wie sie von der Platte emporgetragen wurde. Der Gang, aus dem sie gekommen war, verschwand unter ihren Füßen. Sie bewegte sich zur Mitte der Platte und kauerte sich dort nieder. Mit dem Blasterlauf klopfte sie das Material ab, das intensiv blau schimmerte. Es klang metallisch.
Sie steckte die Waffe wieder ein.
Die nächste Galerie wurde passiert, fünf Meter über der anderen. Weitere fünf Meter höher gab es die nächste.
Nicole sah nach oben.
Plötzlich konnte sie das Ende des Schachtes sehen.
Eine dunkle, in sich geschlossene Fläche. Dort ging’s nicht weiter.
»Deckel drauf, damit kein Regen hineinkommt«, sagte sie spöttisch.
Aber dann verging ihr der Spott.
Das war nicht das oberste Ende des Schachtes mit dem Abschlußblech.
Sie war einer Täuschung erlegen. Es war eine Platte wie die, auf der sie stand und emporgetragen wurde, nur kam diese andere Platte abwärts.
Und sie war genauso massiv wie ›ihre‹ Plattform. Sie glitt ebenfalls durch die Galerien hindurch.
Und so, wie es aussah, würden die beiden Platten sich in wenigen Augenblicken treffen, und weil beide stabil waren, würden sie Nicole zwischen sich zerdrücken…
***
Tendyke löste sich aus den Schatten, als er sicher war, daß gerade niemand hersah. Innerhalb der Festungsmauern standen Wohngebäude, jeweils zwei Stockwerke hoch, in denen sich wohl die Unterkünfte der Krieger befanden. In einem anderen Teil der Festung ragte auf einer Erhöhung der Sonnentempel auf. Davor befand sich ein freier Platz. Dort waren in der realen Gegenwart die Gräber jenes Fürsten und des auf dem Bauch bestatteten Priesters entdeckt worden.
Jetzt aber war dort, wie Tendyke wußte, nichts dergleichen. Es gab dort wohl unterirdische Räume, aber keine Gräber. Er war ja selbst dort aufgetaucht, nachdem es ihn aus der Gegenwart in diese Epoche gerissen hatte.
Er näherte sich der Rückseite des Tempels. Auch hier führten große Stufen die kleine Erhöhung hinauf. Aber einen Eingang konnte der Abenteurer nicht entdecken. Er war sich auch nicht sicher, ob es in diesem Tempel neben dem Hauptportal noch einen weiteren Zugang gab. Bei den Ausgrabungen hatte er sich zwar die Festungsanlage genau angesehen, aber ausgerechnet darauf nicht geachtet.
Allerdings waren Tempel grundsätzlich wie Fuchsbauten angelegt.
Egal, welcher Kultur und Religion sie entstammten – immer gab es einen geheimen Ausgang, den nur die Priester selbst kannten. Meist befanden sich in seiner Nähe auch versteckte Anlagen, mit denen rituelle Tricks vom Stapel gelassen werden konnten.
Einen solchen Zugang suchte Rob Tendyke. Denn es war ihm klar, daß er durch das Hauptportal vielleicht unbehelligt eindringen konnte, aber er würde den Tempel nicht zusammen mit Zamorra, der vielleicht noch ohne Besinnung war, hierdurch wieder verlassen können.
Wenn er Pech hatte, befand sich der geheime Zugang in einem der Wohngebäude oder sogar außerhalb der Festung. Es mochte unterirdische Gänge geben, die hierhin oder dorthin führten.
Er tastete die rückseitigen Wände ab. Er suchte in der Dunkelheit der Nacht, nur vom Sternenlicht mäßig erhellt, nach einem verborgenen Mechanismus, der eine Tür an unvermuteter Stelle aufschwingen ließ.
Aber da war nichts…
Plötzlich erstarrte er. Er fühlte, daß er beobachtet wurde. Aber es waren keine menschlichen Augen. Es war etwas anderes, das aus der Ferne nach ihm tastete…
Unwillkürlich schüttelte er sich wie ein nasser Hund, aber er konnte den seltsamen Blick eines noch seltsameren Beobachters nicht von sich abschütteln.
Es wurde brenzlig. Jemand wußte, daß er sich hier befand. Wenn er noch etwas ausrichten wollte, mußte er sich beeilen. Er durfte keine Zeit mehr damit verschwenden, nach einer Geheimtür zu suchen, die es hier möglicherweise sowieso nicht gab.
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