04 - Die Tote im Klosterbrunnen
hatte den kunstvoll geschnitzten Eichenstuhl der Äbtissin vor den Altar gestellt, direkt vor das hohe goldene Kreuz. Hier war Beccans Platz. Auf einem Hocker rechts von ihm saß sein persönlicher Schreiber, der die Tatsachen und Beweise, die Fidelma vortrug, zu protokollieren hatte. Fidelma selbst saß mit Eadulf in der vordersten Bankreihe rechts des Ganges. Hinter ihnen hatten Ross und Bruder Cillín von Mullach als Zuhörer Platz genommen, und dahinter wiederum Adnár und Bruder Febal. Daneben hockte der alte Bauer, Barr, der von Fidelma in die Abtei bestellt worden war. Eine Reihe weiter hinten hatte, flankiert von zwei Kriegern der Loígde, der Gefangene Olcán Platz gefunden.
Auf den Bänken auf der anderen Seite des Ganges saßen neben der selbstzufriedenen Äbtissin Draigen Schwester Lerben und Schwester Comnat und hinter ihnen Schwester Brónach und die schüchterne Schwester Berrach. Die hinteren Bankreihen waren vollbesetzt, dort drängten sich all jene Mitglieder der Gemeinschaft, denen es gelungen war, in die Kapelle hineinzukommen. Am Eingang hatte sich Máil mit zwei Kriegern postiert.
In der duirthech brannten Laternen, deren flackerndes Licht von dem goldenen Altarkreuz und den zahlreichen Ikonen und Kunstwerken an den Wänden zurückgeworfen wurde. Die Laternen sorgten nicht nur für Licht, sondern strahlten auch so viel Hitze ab, daß es trotz der kalten Witterung draußen nicht nötig gewesen war, ein Feuer im Kohlenbecken anzuzünden.
Beccan eröffnete die Vorverhandlung und verkündete, daß er hier zu Gericht sitze, um zu hören, welche Beweise Fidelma in ihrer Eigenschaft als dálaigh der Gerichtsbarkeit im Zusammenhang mit den Morden an zwei Schwestern der Gemeinschaft gesammelt hatte. Anhand der von ihr vorgetragenen Beweise werde er dann beurteilen, ob gegen den oder die von ihr Beschuldigten Anklage zu erheben sei. Wenn ja, würde man zu einem späteren Zeitpunkt die Gerichtsverhandlung in Cashel abhalten und die Angeklagten dorthin überstellen.
Nach Abschluß der Formalitäten übergab Beccan Fidelma das Wort.
Sie erhob sich und sprach, wie es Brauch war, die Formel »Pace tua«, »mit Eurer Erlaubnis«. Dann schwieg sie eine Weile mit gefalteten Händen und gesenktem Blick, als betrachte sie den Fußboden, und ordnete ihre Gedanken.
»Selten habe ich an einem Ort so viel Elend vorgefunden wie in dieser Abtei.« Fidelmas Eröffnungsworte hallten laut und deutlich von den Wänden der Kapelle wider und lösten bei den Schwestern in den hinteren Bankreihen Unruhe aus.
»Dieser Ort ist durchdrungen von Haß, und das ist unvereinbar mit den Prinzipien eines Klosters, das sich der Lehre Christi verschrieben hat. Was ich in dieser Gemeinschaft vorgefunden habe, bestätigt voll und ganz die Richtigkeit der Worte des 55. Psalms: Ihr Mund ist glätter denn Butter, / und haben doch Krieg im Sinn; ihre Worte sind gelinder denn Öl / und sind doch bloße Schwerter.«
Äbtissin Draigen machte Anstalten, etwas zu sagen, doch Brehon Beccan bedeutete ihr mit einer energischen Geste zu schweigen.
»Wir sitzen jetzt hier in einem Gerichtshof und nicht in einer Kapelle, und hier entscheide ich, wer das Wort ergreifen darf«, belehrte er sie. »Die dálaigh ist noch bei ihren einführenden Bemerkungen. Einwände gegen ihre Darstellung sind zu gegebener Zeit zulässig, worauf ich Euch noch hinweisen werde.«
Fidelma nahm den Faden wieder auf, als sei sie nicht unterbrochen worden.
»Äbtissin Draigen wandte sich an ihren kirchlichen Vorgesetzten, Abt Broce von Ros Ailithir, und bat um die Entsendung eines dálaigh . Im Hauptbrunnen der Abtei hatte man einen Leichnam ohne Kopf entdeckt. Man fand bei der Leiche gewisse Dinge, denen besondere Bedeutung zukam: in der rechten Hand hielt sie ein Kruzifix, und an den linken Arm war ein Espenholzstab gebunden mit einer Inschrift in Ogham, mit anderen Worten, ein fé , eine Meßlatte für Gräber. Die Ogham-Inschrift bezog sich auf Morrigan, die heidnische Göttin des Todes und der Kriege. Wie ich von Schwester Brónach erfuhr, kennzeichnet man mit diesem Symbol Mörder oder Selbstmörder.
Wenige Tage später wurde die Verwalterin der Abtei, Schwester Síomha, in gleicherweise enthauptet und mit den gleichen Symbolen versehen aufgefunden. Schon zu Beginn meiner Untersuchungen wurde mir mitgeteilt, daß die einzige Person, die ein Tatmotiv haben könnte, Äbtissin Draigen sei. Man erzählte mir, ihre Vorliebe für Novizinnen sei allgemein bekannt
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