04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Weg zeigen würdet?«
Die junge Nonne nickte mehrmals eifrig, bevor sie sich umdrehte und – auf den kurzen, mißgebildeten Beinen hin und her schaukelnd – über den Innenhof vorausging, hinüber zu der Ansammlung von Steinhäusern, in denen sich Äbtissin Draigens Gemächer befanden. Vor einer schweren Eichentür blieb sie stehen und klopfte zaghaft mit ihrem Stock dagegen. Dann öffnete sie die Tür.
»Schwes… Schwes… Schwester Fidelma, Mu… Mutter Oberin«, keuchte das Mädchen, drehte sich sichtlich erleichtert um, als sei sie froh, ihren Auftrag erledigt zu haben, und verschwand.
Fidelma trat ein und schloß die Tür hinter sich.
Äbtissin Draigen war allein und saß an ihrem dunklen Arbeitstisch aus Eiche. Der Raum war düster, durch die Fenster drang nur wenig Licht. Obwohl es erst früher Nachmittag war, brannte auf dem Tisch eine Talgkerze, in deren Schein die Äbtissin las. Die Miene, mit der sie Fidelma begrüßte, wirkte im Licht der flackernden Kerze unfreundlich und verhärmt.
»Mir wurde berichtet, daß Ihr Euch meiner rechtaire gegenüber äußerst unhöflich verhalten habt. Eine Hausverwalterin verdient Respekt. Sicherlich muß ich Euch daran nicht erst erinnern?«
Fidelma trat vor und nahm gegenüber der Äbtissin Platz. Zunächst zeigte sich Erstaunen auf Äbtissin Draigens Gesicht, dann Entrüstung.
»Schwester, Ihr scheint Euch zu vergessen. Ich habe Euch nicht aufgefordert, Platz zu nehmen.«
Normalerweise respektierte Fidelma Regeln und legte keinen allzu großen Wert auf Förmlichkeiten, doch wenn sie spürte, daß es ihr dienlich war, ihre Stellung zu betonen und dadurch einen Vorteil zu erzielen, war sie sich keineswegs zu schade dafür.
»Äbtissin Draigen, ich bin nicht in der Stimmung, über Formalien zu streiten. Muß ich Euch daran erinnern, daß ich den Rang einer anruth innehabe und deshalb sogar in Gegenwart von Unterkönigen sitzen und gleichberechtigt mit ihnen debattieren darf? Selbst der Oberkönig kann mich einladen, in seiner Gegenwart Platz zu nehmen, wenn er das wünscht. Ich bin nicht hier, um Fragen des guten Benehmens zu erörtern, sondern um einen Fall rechtswidriger Tötung zu untersuchen.«
Falls Äbtissin Draigen beabsichtigt hatte, Fidelma ihre Autorität zu demonstrieren, so hatte diese ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Fidelmas betont kühle Antwort schien der Äbtissin die Sprache verschlagen zu haben. Sie starrte Fidelma wortlos an, und ihre Miene drückte Feindseligkeit aus.
Fidelma verspürte plötzlich Gewissensbisse ob ihres Benehmens. Sie wußte, daß sie es an Respekt fehlen ließ, auch wenn ihr dies als dálaigh durchaus zustand, doch ihr ging so vieles durch den Kopf, daß sie für die peinlich genaue Beachtung von Anstandsregeln einfach nicht die Zeit hatte. Sie beschloß, die Förmlichkeit ein wenig abzulegen, beugte sich vertraulich vor und schenkte der Äbtissin ein freundliches Lächeln.
»Äbtissin Draigen, laßt mich offen sprechen, denn die Dringlichkeit der Angelegenheit verbietet jedes säumige Vorgehen. Ich habe mich gegenüber Schwester Síomha schroff verhalten, weil ich ihre Eitelkeit durchbrechen mußte, um Antworten auf meine Fragen zu erhalten. Sie ist sehr jung für das Amt der Verwalterin. Vielleicht zu jung?«
Äbtissin Draigen schwieg einen Augenblick und erwiderte dann eisig: »Wollt Ihr meine Wahl der Hausverwalterin in Frage stellen?«
»Ihr wißt am besten, wie Ihr zu entscheiden habt, Mutter Oberin«, entgegnete Fidelma. »Ich stelle lediglich fest, daß Schwester Síomha noch sehr jung ist und wenig Lebenserfahrung hat. Ihre Unerfahrenheit macht sie hoffärtig. Andere Mitglieder Eurer Gemeinschaft wären doch sicher genauso befähigt, das Amt der rechtaire zu bekleiden? Schwester Brónach zum Beispiel?«
Äbtissin Draigen kniff die Augen zusammen.
»Schwester Brónach? Sie ist in sich gekehrt und ungeschickt. Ich habe mir meine Wahl gründlich überlegt. Ihr mögt zwar eine dálaigh der Gerichtsbarkeit sein, doch hier bin ich die Äbtissin, und ich treffe die Entscheidungen.«
Fidelma breitete beschwichtigend die Hände aus.
»Es würde mir im Traum nicht einfallen, mich einzumischen. Doch ich sage, was ich denke. Schwester Síomhas Selbstüberschätzung und ihre Überheblichkeit haben mich zu meinem Verhalten veranlaßt.«
Äbtissin Draigen rümpfte die Nase.
»Ihr schient andeuten zu wollen, daß es eine Verbindung zwischen Schwester Síomha und der Toten gibt. Das hat doch wohl kaum etwas
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