04 - Die Tote im Klosterbrunnen
entbehren.«
»Fragt doch Adnár und seinen Speichellecker Febal, wenn es Euch interessiert. Ich bin sicher, sie werden eine passende Geschichte erfinden.«
»Mutter Oberin, seit meiner Ankunft hier stoße ich immer wieder auf Arroganz und Falschheit, auf abgrundtiefen Haß und drohendes Unheil. Wenn es noch etwas gibt, was ich über den Hintergrund dieser Angelegenheit wissen sollte, ersuche ich Euch dringend, es mir jetzt zu sagen. Am Ende finde ich es doch heraus. Das kann ich Euch versichern.«
Äbtissin Draigens Miene war wie versteinert.
»Und ich kann Euch versichern, Schwester Fidelma, daß die Entdeckung eines unbekannten Leichnams in dieser Abtei nicht das Geringste mit der gegenseitigen Abneigung zwischen meinem Bruder, mir und meinem früheren Mann, Bruder Febal, zu tun hat.«
Fidelma versuchte, in Draigens ausdrucksloser Miene zu lesen, konnte jedoch nichts entdecken.
»Ich muß all diese Fragen stellen«, sagte sie, während sie sich erhob. »Ansonsten kann ich meine Aufgabe hier nicht erfüllen.«
Draigen folgte ihr mit den Augen.
»Ihr mögt tun, was Ihr für nötig haltet, Schwester. Ich begreife jetzt, wozu Ihr Schwester Síomha Fragen stelltet, die mich betrafen. Ich kann Euch versichern, daß ich keines Verbrechens schuldig bin. Sonst hätte ich sicherlich nicht Broce, den Abt von Ros Ailithir, gebeten, einen Anwalt der Gerichtsbarkeit hierherzuschicken, um den Mord zu untersuchen.«
»Ich kann Eurer Argumentation durchaus folgen, Mutter Oberin, aber Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, welch raffinierte Methoden Menschen manchmal entwickeln, um den Verdacht von sich abzulenken.«
Draigen schnaubte angewidert.
»Dann müßt Ihr tun, was Ihr für richtig haltet. Weder ich noch Schwester Síomha haben die Wahrheit zu fürchten.«
Schwester Fidelma hatte die Tür schon fast erreicht, als der letzte Satz der Äbtissin sie innehalten ließ. Sie wirbelte herum und sah Äbtissin Draigen ins Gesicht.
»Da Ihr es nun erwähnt: ich habe in Schwester Síomhas Augen Angst gesehen. Als ich sie fragte, ob sie den kopflosen Leichnam erkannt hat …«
Sie brachte Draigen, die sofort Einwände erheben wollte, mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Man kann Tote auch erkennen, wenn der Kopf nicht vorhanden ist.«
»Ich bin sicher, Schwester Síomha erkannte sie nicht.«
»Das hat sie mir gesagt. Aber warum sollte sie diese Frage fürchten?«
Äbtissin Draigen zuckte mit den Achseln.
»Das ist nicht meine Angelegenheit.«
»Natürlich nicht. Ihre Angst verstärkte sich noch, als ich fragte, ob Ihr über alle Schwestern dieser Gemeinschaft Rechenschaft ablegen könnt.«
Äbtissin Draigen stieß erneut ihr kehliges Lachen aus.
»Ihr glaubt, daß es sich bei der kopflosen Toten um eine unserer Schwestern handelt? Kommt schon, Schwester Fidelma, Ihr beherrscht Euer Handwerk doch sicher besser, als daß Ihr annehmen könntet, wir wüßten nichts davon, wenn eine unserer Schwestern ermordet, enthauptet und dann in unseren Trinkwasserbrunnen geworfen worden wäre!«
»Das wäre eine logische Annahme. Andererseits sind Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft nicht so ohne weiteres in der Lage, einen nackten Körper ohne Kopf wiederzuerkennen, da sie normalerweise nur die Gesichter der anderen zu sehen bekommen.«
»Das ist wahr. Aber wir können über alle hier Rechenschaft ablegen«, bestätigte Äbtissin Draigen.
»Also befinden sich alle Mitglieder der Gemeinschaft auf dem Gelände der Abtei?«
Äbtissin Draigen zögerte.
»Nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, daß wir über alle Mitglieder der Gemeinschaft Rechenschaft ablegen können.«
Fidelma fühlte, wie ihr Blutdruck plötzlich stieg.
»Ich begreife nicht ganz, was diese Feinheiten in der Wortwahl zu bedeuten haben.«
»Mitglieder unserer Gemeinschaft sind häufig in einer Mission zu anderen Abteien unterwegs.«
»Ah.« Fidelma straffte sich. »Also sind Mitglieder Eurer Gemeinschaft zur Zeit unterwegs?«
»Nur zwei.«
»Warum hat mir das niemand gesagt?«
»Ihr habt die entsprechende Frage nicht gestellt, Schwester«, erwiderte die Äbtissin.
Fidelma preßte sie Lippen zusammen.
»Es gibt in diesem Mordfall schon genügend Ungereimtheiten, auch ohne Spielchen wie Gedankenlesen und Wortklaubereien. Erklärt mir, wer sich zur Zeit nicht in der Abtei aufhält und warum.«
Angesichts der Schärfe in Fidelmas Stimme zuckte Äbtissin Draigen zusammen.
»Schwester Comnat und Schwester Almu. Sie sind mit einem Auftrag
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