04 - Die Tote im Klosterbrunnen
cadar zu übernehmen, von Mitternacht bis zum morgendlichen Ángelus. Diese Zeit mag ich am liebsten. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Schwester Síomha gern den Nachtdienst übernimmt. Man kann in aller Ruhe seinen Gedanken nachhängen.«
»Aber Gedanken können sich selbständig machen«, erklärte Fidelma unbeirrt. »Ihr könntet vergessen, wieviel Zeit bereits verstrichen ist und wie oft der Gong geschlagen werden muß.«
Schwester Brónach ergriff eine Tafel, die aus einem Holzrahmen bestand, der eine Schicht weichen Lehms umschloß. Daneben lag ein Griffel, Sie machte mit dem Griffel ein Zeichen und reichte Fidelma die Tafel.
»Gelegentlich kommt das vor«, gestand sie. »Doch wir müssen gewisse Rituale einhalten. Jedesmal, wenn wir den Gong anschlagen, müssen wir pongc, uair und cadar hier verzeichnen.«
»Aber Fehler sind möglich?«
»O ja. In der Nacht, von der Ihr spracht, in der Nacht, bevor wir den Leichnam entdeckten, hatte sich sogar Schwester Síomha verrechnet.«
»Verrechnet?«
»Zeitnehmerin zu sein ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe, aber sollten wir einmal vergessen, wie oft wir den Gong schlagen müssen, dann brauchen wir nur auf der Tafel nachzuschauen, und wenn sie voll ist, streichen wir sie einfach wieder glatt und beginnen von vorne. Schwester Síomha muß mehrere Zeiträume falsch berechnet haben, denn als ich sie am Morgen ablöste, war die Lehmtafel verwischt und ungenau.«
Fidelma musterte die Tafel eingehend. Sie interessierte sich weniger für die Zahlen, die dort verzeichnet waren, als vielmehr für die Beschaffenheit des Lehms. Er war von einem sonderbaren Rot, das ihr bekannt vorkam.
»Stammt der Lehm aus dieser Gegend?«
Schwester Brónach nickte.
»Und woher kommt diese merkwürdige rote Färbung?«
»Oh, das. Ganz in der Nähe gibt es Kupferminen, und dieser Lehm ist typisch für die Gegend hier: er ist eine Mischung aus Kupfer, Lehm und Wasser, daher die auffallende rote Tönung. Der Lehm ist einfach ideal für unsere Schreibtafeln. Die Oberfläche bleibt länger weich als bei normalem Lehm, so daß wir keine anderen Schreibmaterialien verschwenden müssen. Für die Aufzeichnungen über die Klepsydra gibt es nichts Besseres.«
»Kupfer«, flüsterte Fidelma nachdenklich. »Kupferminen.«
Sie fuhr mit einem Finger über die Oberfläche des weichen, feuchten Lehms, grub ihren Fingernagel tief hinein und hob ein Lehmbröckchen heraus.
»Vorsicht, Schwester«, protestierte Brónach, »zerstört doch nicht die Aufzeichnungen.«
Schwester Brónach wirkte etwas ungehalten, als sie Fidelma die Schreibtafel freundlich aus der Hand nahm und die weiche Oberfläche sorgfältig wieder glattstrich.
»Es tut mir leid.« Fidelma lächelte abwesend. Fasziniert betrachtete sie die rötliche Substanz an ihren Fingerspitzen.
K APITEL 7
Schwester Fidelma verließ den Turm durch die Bibliothek. Sie wollte gerade den Innenhof der Abtei überqueren, als sie auf halber Strecke eine untersetzte Gestalt bemerkte, die mit Hilfe eines Stocks auf sie zugeschwankt kam. Es war die gehbehinderte Nonne, die sie bei dem Begräbnis zusammen mit Schwester Brónach gesehen hatte, und sie versuchte offensichtlich, die dálaigh abzufangen. Fidelma blieb stehen und wartete, bis die Schwester sie eingeholt hatte. Wieder verspürte sie Mitleid, während sie das breite, ziemlich nichtssagende Gesicht des Mädchens mit den blassen, wässrigen Augen betrachtete. Trotz allem – es war ein junges, intelligentes Gesicht. Als die Schwester anfing zu sprechen, bemerkte Fidelma neben ihrer anderen Behinderung auch noch ein nervöses Stottern. Sie verzerrte den Mund und sämtliche Muskeln, als sei das Sprechen für sie eine schmerzhafte Übung.
»Schwes… Schwester Fidelma? Schwes… Schwes… Lerben su… sucht nach Euch … Die Mu… Mu… Mutter Oberin … bittet Euch, unverz… unverzüglich in ihrem Ge… Gemach zu erscheinen.«
Fidelma versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, verspürte jedoch eine grimmige Genugtuung. Sie hatte schon vermutet, daß sich Schwester Síomha auf der Stelle bei Äbtissin Draigen über sie beschweren würde. Es lag auf der Hand, weshalb die Äbtissin sie zu sehen wünschte.
»Sehr wohl. Würdet Ihr mir den Weg zeigen? Ich habe vergessen, wo das Gemach der Äbtissin liegt, Schwester …?«
Fragend hob sie ihre Augenbrauen.
»Ich bin Schwes… Schwes… Schwester Berrach«, antwortete das Mädchen.
»Vielen Dank, Schwester Berrach. Wenn Ihr mir den
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