04 - Die Tote im Klosterbrunnen
hinauf.
»Dem Aussehen nach zu urteilen ein gallisches Handelsschiff«, rief sie Ross zu. »Hängt das Topsegel nicht gefährlich schief?«
Widerwillig warf Ross ihr einen anerkennenden Blick zu. Er hatte es aufgegeben, sich über das Wissen zu wundern, das die junge Advokatin an den Tag legte. Dies war das zweite Mal, daß er sie auf seinem Schiff mitnahm, und inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, daß sie über Kenntnisse verfügte, die für ihr Alter höchst ungewöhnlich waren.
»Es stammt aus Gallien, ganz richtig«, bestätigte er. »Die schweren Spanten und die Takelage sind typisch für die Bauweise in den Häfen von Morbihan. Und das Topsegel ist, wie Ihr richtig bemerkt habt, nicht ordnungsgemäß befestigt.«
Er schaute besorgt gen Himmel.
»Verzeiht, Schwester, aber wir müssen an Bord gehen und nachsehen, was da nicht stimmt, bevor wieder Wind aufkommt.«
Fidelma hob die Hand zum Zeichen der Einwilligung.
Ross bedeutete Odar, das Ruder einem anderen Besatzungsmitglied zu überlassen und ihn mit einigen seiner Männer zu begleiten. Behende schwangen sie sich über die Außenseiten, kletterten die Seile hinauf und verschwanden oben an Deck. Fidelma wartete. Sie konnte sie an Bord des größeren Schiffes rufen hören und sah, wie Ross’ Männer eilends in die Takelage stiegen und die Segel einholten, offensichtlich für den Fall, daß wieder Wind aufkam. Bald darauf erschien der Kapitän an der Außenseite des Schiffes, schwang sich hinüber und landete katzengleich auf dem Deck der Foracha . Fidelma bemerkte seinen verwirrten Gesichtsausdruck.
»Was ist los, Ross?« fragte sie. »Wütet etwa eine Krankheit an Bord?«
Ross trat einen Schritt vor. Verriet sein Blick nicht nur Bestürzung, sondern auch heimliche Furcht?
»Schwester, würde es Euch etwas ausmachen, mich auf das gallische Schiff zu begleiten? Ich möchte, daß Ihr es Euch anseht.«
»Ich bin kein Seemann, Ross. Wozu sollte ich es mir ansehen? Wütet irgendeine Krankheit an Bord?« wiederholte sie stirnrunzelnd.
»Nein, Schwester.« Ross zögerte einen Augenblick. Ihm war äußerst unbehaglich zumute. »Um ehrlich zu sein … es ist niemand dort.«
Nur ihr Blinzeln verriet Fidelmas Überraschung. Schweigend folgte sie Ross zur Außenseite des Schiffes.
»Laßt mich vorausklettern, Schwester, dann kann ich Euch an diesem Tau hinaufziehen.«
Er deutete auf ein Seil, das er zu einer Schlinge band, während er sprach.
»Stellt einfach Euern Fuß in die Schlinge und haltet Euch fest, wenn ich’s Euch sage.«
Er drehte sich um und kletterte am Tau hinauf auf das Deck des Handelsschiffes. Fidelma wurde ohne Zwischenfälle die kurze Strecke hochgezogen. Tatsächlich, an Deck des Schiffes befand sich niemand außer Ross und seiner Mannschaft, die inzwischen die Segel festgezurrt hatte. Einer von Ross’ Männern war an der Ruderpinne postiert, um das Schiff unter Kontrolle zu halten. Fidelma sah sich auf dem verlassenen, aber ordentlichen und sauber geschrubbten Deck neugierig um.
»Seid Ihr sicher, daß niemand an Bord ist?« fragte sie mit einem Anflug von Ungläubigkeit in der Stimme.
Ross nickte.
»Meine Männer haben überall nachgesehen, Schwester. Welche Erklärung gibt es für dieses Rätsel?«
»Ich habe nicht genügend Informationen, um das auch nur erraten zu können, mein Freund«, erwiderte Fidelma und musterte weiterhin prüfend das saubere, gepflegte Erscheinungsbild des Schiffes. Sogar die Taue waren ordentlich aufgerollt. »Gibt es denn gar kein Durcheinander an Bord? Kein Anzeichen dafür, daß das Schiff gezwungenermaßer verlassen wurde?«
»Mittschiffs ist sogar noch ein Rettungsboot befestigt«, erwiderte Ross kopfschüttelnd. »Gleich, als ich das Schiff erblickte, fiel mir auf, daß es hoch aus dem Wasser ragte und nichts darauf hindeutete, daß es zu sinken drohte. Soweit ich feststellen kann, hat es nirgendwo ein Leck. Nein, es gibt keinen Hinweis darauf, daß es verlassen wurde, weil man befürchtete, es könne sinken. Die Segel waren alle ordnungsgemäß gehißt, vom Topsegel einmal abgesehen. Was mag bloß mit der Besatzung geschehen sein?«
»Was ist mit dem Topsegel?« fragte Fidelma. »Es war nicht richtig befestigt und hätte von einem heftigen Windstoß abgerissen werden können.«
»Noch lange kein Grund, ein Schiff zu verlassen«, erwiderte Ross.
Fidelma spähte hinauf zu dem Mast, an dem das Topsegel jetzt festgezurrt war. Sie runzelte die Stirn und rief Odar, der die Segel gerefft
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