04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Platz nehmen und reden, Schwester Lerben.«
»Ist das ein offizielles Gespräch?« wollte Lerben wissen.
Fidelma antwortete gleichgültig.
»Offiziell? Wenn Ihr damit meint, ob ich in meiner Eigenschaft als dálaigh der Gerichtsbarkeit mit Euch sprechen möchte, dann ist es offiziell. Aber die Dinge, die hier möglicherweise zur Sprache kommen, werden nicht schriftlich festgehalten.«
Schwester Lerben schien sich widerwillig in die Situation zu fügen und nahm Platz. Ihre Augen wichen Fidelmas prüfendem Blick aus.
»Seid versichert, daß nichts, was Ihr hier sagt, an Eure Äbtissin weitergeleitet wird.« Fidelma bemühte sich, dem Mädchen die Befangenheit zu nehmen, und fragte sich gleichzeitig, wie sie das Thema am besten ansprechen sollte. Sie setzte sich neben Lerben, die weiterhin schwieg. »Laßt uns den Streit vergessen, den wir hatten. Auch ich war stolz, als ich in Euerm Alter war. Auch ich dachte, ich wüßte über vieles Bescheid. Aber über das Kirchenrecht wart Ihr falsch informiert. Ich bin immerhin Advokatin der Gerichtsbarkeit, und wenn Ihr versucht, Eure Kenntnisse auf diesem Gebiet mit den meinen zu messen, zieht Ihr unweigerlich den kürzeren. Ich will damit nicht angeben, sondern lediglich eine Tatsache feststellen.«
Das Mädchen erwiderte noch immer nichts.
»Ich weiß, daß Äbtissin Draigen Eure Beraterin war.« Fidelma versuchte, sie durch diese Bemerkung aus der Reserve zu locken.
»Äbtissin Draigen verfügt über großes Wissen«, fauchte Lerben. »Warum sollte ich ihre Worte anzweifeln?«
»Ihr bewundert Äbtissin Draigen. Das verstehe ich gut. Aber mit ihren Kenntnissen der Gesetze ist es nicht weit her.«
»Sie setzt sich für unsere Rechte ein. Für die Rechte der Frauen«, konterte Schwester Lerben.
»Ist es denn nötig, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen? Ist denn der Schutz der Frauen im irischen Gesetz nicht eindeutig verankert? Frauen werden vor Vergewaltigung geschützt, vor sexueller Belästigung und sogar vor Beleidigung. Vor dem Gesetz sind Frauen den Männern gleichgestellt.«
»Manchmal ist das nicht genug«, erwiderte das Mädchen ernsthaft. »Äbtissin Draigen erkennt die Schwächen in unserer Gesellschaft und kämpft für mehr Rechte.«
»Das verstehe ich nicht. Vielleicht seid Ihr so gut und erklärt es mir. Wenn die Äbtissin mehr Rechte für Frauen anstrebt, warum sagt sie dann, die Fénechus-Gesetze müßten verworfen und die neuen Kirchengesetze angenommen werden? Warum befürwortet sie die Bußvorschriften, deren weltanschauliche Grundlagen sich aus dem römischen Recht entwickelt haben? Dieses Recht verweist die Frau in eine untergeordnete Rolle.«
Schwester Lerben war begierig, ihren Standpunkt zu erklären.
»Nach dem kanonischen Recht, das Draigen unterstützen möchte, wäre der Mord an einer Frau ein schlimmeres Verbrechen als der Mord an einem Mann. Leben für Leben. Im Augenblick schreiben die irischen Gesetze lediglich vor, daß eine Entschädigung gezahlt und der Mörder rehabilitiert werden muß. Dagegen verlangen die Gesetze, die die Kirche Roms vorschlägt, daß der Täter mit dem Leben zu bezahlen und zuvor körperliche Qualen zu erleiden hat. Die Äbtissin hat mir einige der Bußvorschriften gezeigt. Darin heißt es, einem Mann, der eine Frau tötet, werden Hände und Füße abgehackt und Schmerzen zugefügt, bevor er den Tod erleidet.«
Fidelma betrachtete den blutdürstigen Eifer des jungen Mädchens voller Abscheu.
»Und eine Frau wird für das gleiche Verbrechen bei lebendigem Leibe verbrannt«, gab Fidelma zu bedenken. »Ist es nicht besser, nach einer Entschädigung für das Opfer zu trachten anstatt Rache am Täter zu üben? Ist es nicht besser, zu versuchen, den Missetäter zu rehabilitieren und dem Opfer zu helfen, anstatt schmerzhaft Vergeltung zu üben, mit der man nichts weiter erreicht außer einen kurzen Moment der Genugtuung?«
Schwester Lerben schüttelte den Kopf und antwortete in leidenschaftlichem Tonfall: »Draigen sagt, daß schon in der Bibel steht: ›Seele um Seele, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß …‹«
»Diese Worte aus dem Zweiten Buch Mose werden häufig zitiert«, unterbrach Fidelma müde. »Man sollte sich lieber die Worte Christi anschauen, der sagt etwas ganz anderes. Seht Euch das Evangelium des heiligen Matthäus an, dort steht: ›Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹ Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem
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