04 - komplett
entsetzt. „Im Vergleich zu Cassie bin ich eine wahre Anfängerin.“
„Dann werde ich ein sanfteres Tier für Sie aussuchen“, meinte Vincent lächelnd.
„Eine solche Stute habe ich für Mama gekauft, aber sie reitet fast nie aus.“
„Das ist sehr schade“, warf Cassie ein. „Erlaubt es ihre Gesundheit nicht?“
„Es gibt nicht wirklich einen Grund für Mama, sich so zu schonen. Sie scheint nicht mehr das Bedürfnis zu haben, sich an die frische Luft zu begeben. Nach Sir Bertrams Tod war sie sehr krank, aber jetzt ...“
„Sie hat keinen Lebensmut mehr“, sagte Sarah. „Einer Tante von mir ging es auch so.“
„Könnte es nicht einfach Langeweile sein?“, warf Cassie nachdenklich ein. „Wenn sie so oft allein ist, da Sie und Sir Harry meist fort sind ...“
Vincents Miene verdüsterte sich, und einen Moment fürchtete Cassie, sie hätte ihn verärgert. Doch dann nickte er zustimmend. „Ich dachte oft, Mama würde wieder glücklich werden, wenn man sie dazu überreden könnte, sich in Gesellschaft zu begeben. So wie sie es früher immer tat. Denn hier begegnet sie nur dem Vikar und einigen wenigen alten Freunden.“
„Haben Sie Lady Longbourne deswegen dazu überredet, mich einzuladen?“
Cassies offener Blick brachte Vincent ein wenig in Verlegenheit. Sie war eine kluge Frau, geistreich und unabhängig. Als er, Harry, Richard Cross, Freddie Bracknell und Major Saunders – mit mehr oder weniger Begeisterung – um sie gelost hatten, hatte Vincent dafür gesorgt, dass er den kurzen Strohhalm zog. Jacks Tod hatte ihn sehr belastet, und er war entschlossen gewesen, seine Pflicht wahrzunehmen und sich um Cassandra zu kümmern. Zwar waren ihm später Zweifel gekommen, weswegen er auch gezögert hatte, um sie anzuhalten, doch seine Ehre befahl ihm, sie zu seiner Frau zu machen.
„Teilweise“, sagte er. „Ich wusste, dass Ihre Lage zurzeit sehr schwierig ist, und wollte Ihnen behilflich sein. Sie haben meinen Brief erhalten?“ Sie nickte. „Und dennoch wandten Sie sich kein einziges Mal an meine Anwälte.“
„Nein.“ Cassie zögerte. Irgendetwas drängte sie, ihm das Ausmaß ihrer unverhofften Erbschaft zu verschweigen. „Ich befand mich für kurze Zeit in Schwierigkeiten, aber das ist jetzt vorüber. Die Schwester meiner Mutter hat mir etwas Geld hinterlassen ...“
„Mir war nicht bewusst, dass Sie Verwandte haben. Abgesehen von Sir Edwards Cousin. Und der soll ein recht unbehaglicher Geselle sein, wie man hört. Jack jedenfalls hielt nicht sehr viel von ihm.“
„Er ist abscheulich!“, entfuhr es Cassie. „Er missfällt mir sehr. War er doch tatsächlich so dreist, aus Pflichtgefühl um mich anzuhalten! Als müsste ich aus einem solchen Grund heiraten. Ich bin vielleicht nicht wunderschön, aber ein völlig hoffnungsloser Fall bin ich denn wohl doch nicht, denke ich.“
„Nein, ganz und gar nicht hoffnungslos.“ Er lächelte amüsiert.
„Ich habe die Absicht, London zu besuchen, wenn ich kann. Oder Brighton. Mrs.
Simmons, meine neue Anstandsdame, hat mir versprochen, mich Ende des nächsten Monats zu begleiten. Mit einer neuen Garderobe und der Bekanntschaft wichtiger Leute, die einem helfen können, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass ich jemandem begegnen könnte. Einem Gentleman, in dessen Gesellschaft ich mich behaglich fühlen kann. Meinen Sie nicht auch?“
„Ist denn Behaglichkeit Ihre Hauptanforderung an einen Gatten?“ Vincent betrachtete sie aufmerksam. Ihre Zuversicht faszinierte ihn. Zog sie ihn selbst denn gar nicht in Betracht für die Wahl eines Ehemanns? Oder war es nur eine List, um den Jagdinstinkt in ihm zu wecken? Nein, als so berechnend schätzte er sie nicht ein.
Vermutlich hielt sie ihn für zu alt. Immerhin war er ja auch fast elf Jahre älter als sie.
„Ich denke, sich in Gegenwart eines Menschen wohlzufühlen ist sehr wichtig –
besonders wenn es sich bei diesem Menschen um den Lebenspartner handelt.“ Sie sah ihn ernst an. „Glauben Sie nicht auch, Mylord?“
Ihre Vorstellung von der Ehe amüsierte Vincent nicht wenig, aber er ließ sich nichts anmerken. Die offene Art, mit der sie sprach, zeigte ihm, dass er es mit einer jungen Dame von Format zu tun hatte, und er unterhielt sich großartig.
Eigentlich hätte er es wissen müssen, denn Jack hatte viele Geschichten über die Abenteuer seiner Schwester erzählt. Nur hatte Vincent sie bisher für kindische Streiche gehalten – wie den Zwischenfall damals mit dem Kätzchen
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