04 - komplett
nichts dagegen tun, sie musste immer öfter an ihn denken. Es lag doch sicher nicht an dem Irrtum mit den falschen Räumen, dass er sich so seltsam verhielt, oder? Niemand schien Anstoß daran zu nehmen, und Mrs. Dorkins hatte sich deswegen unzählige Male bei ihr entschuldigt. Nein, etwas anderes musste der Grund sein. Vielleicht kämpfte er lediglich mit eigenen Problemen.
Hätte Cassie Mäuschen spielen können bei einem sehr hitzigen Gespräch zwischen Lord Carlton und Sir Harry, wäre ihr sofort alles klar gewesen. Doch noch sollte sie eine ganze Weile im Ungewissen bleiben.
„Du unglaublicher Dummkopf!“, hatte Vincent seinen Halbbruder angefahren, als man ihm bei White’s wohl zum fünften Mal zu seiner bevorstehenden Hochzeit gratuliert hatte. „Was in aller Welt hast du dir nur dabei gedacht?“
Man sah Harry deutlich seine Beschämung an. Er wünschte sich von Herzen, Vinnie würde ihn tatsächlich niederschlagen, statt ihn so vorwurfsvoll anzusehen.
„Ich habe nicht überlegt. Es tut mir unendlich leid. Aber sicher ist es doch nicht so wichtig, was die Leute sagen oder denken, sobald eure Verlobung erst einmal bekannt gegeben wird, oder?“
„Was macht dich so sicher? Cassandra hegt vielleicht nicht den Wunsch, mich zu heiraten – oder dich. Oder irgendeinen von Jacks Freunden. Sie ist eine Erbin und nach London gekommen, um sich selbst einen Gatten auszusuchen. Deine unglaubliche Lügengeschichte hat ihr jede Möglichkeit dazu genommen. Sollte sie mich jetzt abweisen, wird man sie für leichtfertig halten. Und was meinst du, wofür man mich halten wird, wenn ich sie nicht um ihre Hand bitte? Und sollte ich es doch tun, wird man mich vermutlich einen Mitgiftjäger schimpfen.“
Harry wünschte sich, der Boden würde sich unter ihm auftun. Doch wie immer in einer so verfahrenen Lage geschah auch jetzt nichts dergleichen. Er musste sich Vinnies Zorn stellen.
„Warst du betrunken?“, wollte Vincent wissen.
„Nein, nicht an dem Tag.“ Er zuckte unter Vincents verächtlichem Blick zusammen.
Nie zuvor hatte er ihn so wütend erlebt. „Es war wegen La Valentina. Sie wollte wissen, wo du bist. Und die Leute schlossen schon Wetten ab, ob du sie heiraten würdest oder nicht. Als ob du das je tun würdest! Ich wollte dem unverschämten Gerede der Leute endlich ein Ende machen.“
„Und ein neues in die Welt setzen!“ Vincent atmete tief ein. Seine Wut ließ allmählich nach. „Du bist ein Idiot, Harry, und hast mich in eine unmögliche Lage gebracht.“
Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, Cassie diese Lage zu erklären, und der Furcht, einen Skandal zu verursachen oder – was viel schlimmer wäre –
Cassie zu verletzen, wenn sie die Wahrheit erfuhr.
Cassie wusste nichts von dem sich anbahnenden Unheil und genoss ihre Besuche bei Näherinnen, Modistinnen, Handschuhmachern und in anderen Geschäften, in denen sie sich all das anschaffte, was für eine erfolgreiche Einführung in die Gesellschaft so nötig war. Mehrere Tage vergingen, in denen sie kaum zur Ruhe kam, und erst am Abend der Gesellschaft, die ihr zu Ehren gegeben wurde, geschah etwas, das ihr Leben auf den Kopf stellen sollte.
„Ich habe mich noch nie so gut unterhalten.“ Cassie drehte sich in einem ihrer vielen neuen Kleider vor dem Spiegel hin und her. „Das ist ein so wunderschönes Abendkleid, Mylady. Darin sehe ich richtig elegant aus. Natürlich nicht hübsch, aber annehmbar, hoffe ich.“
„Sie sind sehr viel mehr als das“, sagte Lady Longbourne nachdenklich. Ihre Gefühle für das Mädchen waren in den letzten Tagen noch tiefer geworden. Cassie mochte nicht schön sein, und sie würde es auch nie werden, aber sie war etwas Besonderes.
Sie besaß eine Art innerer Schönheit, die allerdings nicht jeder erkannte. „Sie sind eine sehr ansehnliche Frau, Cassie. Jeder vernünftige Mann wird das sehen.
Jedenfalls mache ich mir keine Sorge, Sie könnten heute Abend das Schicksal eines Mauerblümchens erleiden, meine Liebe.“
„Ich hoffe nicht!“ Cassie lachte. „Ich bin entschlossen, Erfolg zu haben, Mylady.“
„Und Sie hätten ihn auch verdient, mein Kind.“
Es war Cassies erste Begegnung mit der Londoner Gesellschaft, so völlig verschieden von den harmlosen Zusammenkünften mit ihren Freunden auf dem Land.
„Wie ich schon sagte ...“ Lady Longbourne wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. „Herein.“
Die Haushälterin trat ein. „Lord Carlton möchte anfragen, ob Miss
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