04 - komplett
zu haben.
Doch wenn er wirklich am Leben war, was hielt ihn dann davon ab, sich seiner Schwester und seinen Freunden zu erkennen zu geben?
Die einzige Antwort, die ihr darauf einfiel, war, dass er in großen Schwierigkeiten steckte.
Die Fahrt zurück aufs Land, zunächst nach Carlton Manor, wo sie übernachteten, und danach nach Longbourne, verlief ohne Zwischenfälle. Es gab keine Wegelagerer, die sie in Schrecken versetzt hätten, und keine Zigeunerinnen lagen am Straßenrand, die gerettet werden mussten. Trotzdem neigte Cassie aus irgendeinem Grund heute dazu, Lady Longbourne recht zu geben, die sich oft beklagte, dass das Reisen ermüdend sei.
Als sie ihr Ziel erreichten, erwartete sie eine Überraschung. Harry hatte das ganze Haus, ohne irgendjemandem davon zu erzählen, völlig modernisieren lassen.
„Oh, Harry!“, rief seine Mutter begeistert. „Du hast es endlich bequem hergerichtet!
Ich denke, jetzt ist es genauso schön wie Carltons Haus.“
Harry schien zufrieden zu sein. „Es freut mich, dass es dir gefällt, Mama. Ich werde sehr wahrscheinlich in Zukunft mehr Zeit auf dem Land verbringen und hoffe natürlich, du wirst mich von Zeit zu Zeit besuchen.“
„Das werde ich, mein lieber Junge“, sagte sie. „Was für ein guter Sohn du doch bist, mir zuliebe so viel Mühe auf dich zu nehmen.“
Ihr fiel nicht auf, wie Harry schuldbewusst den Blick senkte. Cassie stutzte. Wie es schien, hatte er sich die Mühe nicht wegen seiner Mutter gemacht. Und das konnte nur bedeuten, dass er es für sich getan hatte. Dachte Harry gar daran, in nächster Zukunft zu heiraten? Und wenn ja, wen?
Sarah sah nicht aus wie eine Frau, der man einen sehnlichst erwarteten Antrag gemacht hatte. Vielmehr schien sie kurz davor zu sein, in Trübsinn zu verfallen.
So erstaunte es Cassie keineswegs, als Sarah am folgenden Morgen verkündete, ihre Pflicht verlange es, zur Pfarrei zurückzukehren.
„Oh. Ich dachte, du würdest bis nach der Hochzeit bei mir bleiben“, sagte Cassie.
„Bitte verlass mich noch nicht, Sarah. Zwei Tage vor der Hochzeit findet doch der Tanzabend statt. Den willst du gewiss nicht versäumen!“
Sarah konnte überredet werden, bestand aber darauf, ihre Eltern noch an diesem Morgen zu besuchen. Da es ein schöner Tag war, beschloss Cassie, ihre Freundin bis zur Pfarrei zu begleiten.
„Es wird uns guttun, einen richtig langen Spaziergang zu machen. Ich möchte natürlich auch deine Eltern begrüßen und danach Nanny Robinson in ihrem Häuschen aufsuchen. Wir können dann später zusammen wieder heimgehen.“
Mrs. Walker begrüßte ihre Tochter mit einer liebevollen Umarmung und Freudetränen in den Augen. Sie ließ Cassie nicht gehen, bevor sie ein Glas von ihrem selbst gemachten Himbeerwein getrunken und ein Stückchen Obstkuchen gegessen hatte. Also konnte Cassie sich erst eine gute halbe Stunde später auf den Weg zu ihrer ehemaligen Nanny machen.
Die alte Dame begrüßte sie lächelnd, nahm den Korb mit den kleinen Geschenken freudig an und überschüttete sie gleich mit Fragen über die bevorstehende Hochzeit.
„Ich erinnere mich noch gut an Seine Lordschaft“, sagte sie augenzwinkernd. „Er und Master Jack heckten ständig irgendwelche Streiche aus.“
„Ja, sie waren gute Freunde, Nanny.“
„Und jetzt bist du mit Lord Carlton verlobt.“ Cassies alte Kinderfrau nickte zufrieden.
Einen Moment blieb Cassie stumm, dann fragte sie leichthin: „Hast du noch immer Jacks Sachen? In den Truhen, die ich dir schickte?“
„Ich habe sie in meiner Scheune abstellen lassen. Selbstverständlich sind sie noch da.“
„Sobald wir in Carlton House wohnen werden, lasse ich sie abholen.“
„Wie du möchtest, Cassandra“, meinte Nanny sanft. „Aber es ist nicht gut, sich zu sehr an die Vergangenheit zu klammern, meine Liebe.“
„Ich könnte nicht zulassen, dass jemand anders sie in seinem Besitz hat.“
„Nein, natürlich nicht.“
Cassie wechselte das Thema und unterhielt sich noch eine halbe Stunde mit ihrem geliebten Kindermädchen. Danach machte sie sich auf zur Pfarrei. Dabei kam sie an der Auffahrt zu Thornton House vorbei. Zwar sah sie flüchtig zum Gebäude, das undeutlich durch die Bäume zu sehen war, dachte aber nicht daran, den jetzigen Bewohner zu besuchen. Doch im nächsten Moment hörte sie jemanden ihren Namen rufen, drehte sich um und sah Sir Kendal auf sich zukommen.
„Ich wollte Ihnen gerade einen Besuch abstatten“, sagte er ein wenig atemlos, als er sie
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