04 - komplett
erreicht hatte. „Es tut mir leid, aber ich muss Ihnen etwas Unangenehmes mitteilen, Cassandra. Und ich fürchte, es wird Ihnen viel Kummer bereiten.“
Sie sah ihn entsetzt an. „Was in aller Welt meinen Sie?“
„Als ich das Gut Ihres Vaters erbte, war es meine Absicht, ein guter Vormund zu sein.
Ich habe Sie nur gebeten, meine Gattin zu werden, weil ich es nicht für richtig hielt, dass man Sie aus Ihrem eigenen Heim vertrieb.“
Schamesröte stieg Cassie in die Wangen. Ihr wurde bewusst, wenn auch etwas verspätet, dass Kendal es gut gemeint hatte.
„Ich habe Sie falsch beurteilt“, gab sie zu. „Bitte verzeihen Sie mir.“
„Nun, reden wir nicht mehr davon“, sagte Sir Kendal besänftigt. „Seine Lordschaft versicherte mir, ich bräuchte mir um Ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Also bleibt mir nur noch, Ihnen alles Gute zu wünschen. Was ich hiermit tue.“
„Danke, Sir Kendal. Sie sind äußerst freundlich.“
„Nun muss ich Ihnen die schlechten Nachrichten mitteilen. Neulich Nacht ist in Thornton House eingebrochen worden.“
„Eingebrochen?“, wiederholte Cassie verblüfft. „Oh nein! Ist jemand zu Schaden gekommen?“
„Glücklicherweise nein. Ich habe den Eindringling persönlich bei seinem Tun gestört, weil ich von einem Geräusch aufgewacht war. Wie sich herausstellte, fehlen nur die Pistolen Ihres Vaters und eine silberne Kanne.“
Cassie überlegte. „Oh ja, jetzt erinnere ich mich. Ihr Dieb wird recht enttäuscht sein.
Papa benutzte diese Pistolen nie, weil sie nicht verlässlich seien, wie er sagte. Ich finde es sehr mutig von Ihnen, mitten in der Nacht seltsamen Geräuschen nachzugehen. Ich an Ihrer Stelle hätte mich unter der Decke verkrochen und nicht darauf geachtet.“
Natürlich war das nicht wahr, aber sie wollte in gewisser Weise ihre Unfreundlichkeit ihm gegenüber wiedergutmachen.
„Nun, was das angeht, hatte ich mein Jagdgewehr bei mir. Und ich feuerte es durch das Fenster auf den Burschen ab.“
„Sie haben ihn sogar gesehen?“
„Nicht sein Gesicht, nur einen flüchtigen Blick auf ihn, während er davonlief. Er trug einen alten Soldatenmantel.“
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Einen Moment konnte sie nicht sprechen. „Haben Sie ihn getroffen ... mit Ihrem Schuss?“, brachte Cassie schließlich mit leiser Stimme hervor.
„Das bezweifle ich“, meinte Kendal bedauernd. „Er war zu schnell für mich. Der Halunke! Kerle wie er verdienen es, gehängt zu werden.“
„Er war wahrscheinlich verzweifelt“, sagte Cassie. „Sicher sogar, sonst hätte er es nicht gewagt einzubrechen.“
„Nun, so schnell wird er es nicht wieder wagen. Er weiß, dass ich nicht zögern werde, auf ihn zu schießen.“
Cassie antwortete mit halbherzigem Lob, und als sie sich von ihm verabschiedete, war sie in Gedanken schon ganz woanders.
Der alte Soldat, der ihr Retikül gestohlen hatte, und der Einbrecher – war es ein und derselbe Mann? Was für ein seltsamer Zufall! Allerdings nicht ganz so seltsam, wenn es sich bei ihm tatsächlich um Sir John Thornton handelte, um ihren Bruder Jack.
Jack war am Leben! Plötzlich war sie sich so sicher, dass sie fast gejubelt hätte vor unbändiger Freude. Jack war nicht in Frankreich gefallen. Er war hier in England und ganz in ihrer Nähe. Nur hatte er sich ihr immer verstohlen genähert und floh, wann immer jemand bei ihr gewesen war.
Er musste Angst davor haben, seine Identität zu enthüllen. Ihr Bruder war am Leben, aber in großen Schwierigkeiten.
In diesem Moment sehnte Cassie sich nach ihrem Verlobten. Wäre er doch hier, damit sie sich ihm anvertrauen könnte! Obwohl ihre Gefühle in Aufruhr waren, was ihre Hochzeit anging, wusste sie, Vincent würde ihre Ängste verstehen. Oh, warum bist du nicht da, wenn ich dich brauche? dachte sie bedrückt. Du fehlst mir, du unmöglicher Mann. Ich wünschte so, du würdest nach Hause kommen.
Niemand wäre glücklicher darüber als er, sollte Jack wirklich zu ihnen zurückkehren, und Cassie wusste, er würde ihr helfen, ihren Bruder zu finden. Vincent war der einzige Mensch, dem sie wirklich vertrauen konnte.
9. KAPITEL
Vincent schloss die Bücher des Guts mit einem tiefen Seufzer. Er saß schon seit Stunden an seinem Schreibtisch in der Bibliothek von Hamilton Manor und wusste nicht, warum eigentlich. Sein fähiger Verwalter brauchte seine Hilfe nicht. Aber es war eine Angewohnheit aus den Tagen, als er gezwungen gewesen war, jeden Penny umzudrehen, um sich und seine
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