04 - Winnetou IV
weit über eine Viertelstunde emporgestiegen seien; da hörten die Stufen plötzlich auf. Wir konnten nicht weiter. Wir befanden uns auf einer schmalen steinernen Treppe. Unter uns die Stufen, rechts Mauer, links Mauer, über uns Mauer. Nirgends eine Tür, ein Fenster, eine Öffnung oder sonst etwas dem ähnliches! Wie da hinauskommen?
Grad über der letzten, also obersten Stufe war eine Steinplatte angebracht. Sie konnte nicht schwer sein, denn sie war höchstens drei Spannen im Geviert. Ich versuchte, sie zu heben. Es ging nicht. Sie hatte zwei Vertiefungen, die jedenfalls nicht ohne Absicht angebracht worden waren. Ich konnte das Heft meines Messers hineinstecken. Dadurch gewann ich einen Griff, die Platte zu verschieben. Ich versuchte dies nach vorn, nach hinten, nach rechts – vergeblich. Aber nach links bewegte sie sich endlich. Ich hatte das Gefühl, als ob sie auf einer Rolle laufe. Es entstand über mir eine viereckige Öffnung, durch welche ich steigen konnte. Ich tat dies aber nicht sofort, sondern ich war so vorsichtig, meinen Kopf nur erst bis zu den Augen hineinzustecken. Was sah ich?
Einen sehr hohen, achteckigen, gemauerten Raum mit zwei Türen. Die Wände waren vollständig mit Passifloren überwachsen, deren Ranken bis hinauf an die Decke reichten, wo es rundum zahlreiche Öffnungen gab, das nötige Licht hereinzulassen. Die Ranken waren so dicht, daß man von der darunterliegenden Mauer nichts sehen konnte. Sie grünten und blühten, und zwar fast überreich. Daß dies noch jetzt in der ziemlich späten Jahreszeit geschah, war wohl eine Folge der Höhenlage und auch des Umstandes, daß die Vegetation nicht im Freien stattfand, sondern auf das Innere eines geschlossenen Raumes angewiesen war. Die Passionsblume hat bekanntlich über zweihundert Arten; hier aber waren nur zwei derselben vertreten. Die eigentliche Flächenbekleidung wurde von Passiflora quadrangularis gebildet, deren Prachtblumen, innen rosenrot angehaucht, einen Durchmesser von zehn Zentimeter besaßen. Das ergab rundum eine Blütenpracht sondergleichen. Von diesem Untergrund stach an der einen Wand eine vollständig weiß blühende Passiflora incarnata ab, die so gezogen und beschnitten war, daß sie ein vier Meter hohes, aufrechtstehendes Kreuz bildete, ein ganz auffälliges Zeichen des Christentums hier an diesem mir fremden, geheimnisvollen Ort. Mir gegenüber gab es eine Tür, welche nicht geöffnet war. Und da, wo ich mich befand, schien auch eine zu sein, nur konnte ich sie nicht eher sehen, als bis ich höher stieg und dann aus der Öffnung heraustrat. Da stellte es sich denn heraus, daß hier auf unserer Seite des Passiflorenraumes mehrere Stufen zu einem Ausgang emporführten, welcher verriegelt war. Ich stieg hinauf, schob den Riegel zurück und öffnete. Da stand ich draußen im Freien, nahm mir aber nicht Zeit, die Stelle zu bestimmen, an der ich mich befand, sondern machte die Tür wieder zu, ging die Stufen wieder hinab und forderte Intschu-inta auf, heraufzukommen und mir zu sagen, ob er wohl wisse, wo wir seien. Er tat es. Kaum sah er den Raum, so rief er verwundert aus:
„Uff! Das ist die Blumenkapelle, in welcher Tatellah-Satah zu beten pflegt!“
„Zu wem betet er da?“ fragte ich.
„Zum großen, guten Manitou. Zu wem sonst?“
„Aber das ist doch das Kreuz, das Sinnbild des Christentums?“
„Das stammt von Winnetou. Er hat es gepflanzt. Er sagte, das sei das Zeichen seines Bruders Old Shatterhand. Er verstehe es noch nicht, aber er werde es verstehen lernen, je höher sie hier wachse. Er hatte dich so lieb, so unendlich lieb!“
Man kann sich wohl denken, wie tief mich das ergriff! Aber ich mußte diese Rührung schnell überwinden und fragte weiter:
„Wohin führt die Tür, die uns da gegenüberliegt?“
„Nach Tatellah-Satahs Schlafgemach.“
„Und die hier über den Stufen?“
„Hinaus auf den Berg. Niemand hat geahnt, daß es außerdem eine Falltür gibt, durch die wir jetzt gekommen sind!“
Der Verschluß dieser Falltür bestand in der Platte, welche ich von ihrem Platz entfernt hatte. Sie war unter den Fußbodensteinen derjenige, welcher von der Seite her direkt an die unterste Stufe stieß, in die er, weil sie hohl war, hineingeschoben werden konnte. Indem ich das getan hatte, war die Falltür geöffnet worden. Ich brauchte ihn nur in seine vorige Lage zurückzuschieben, so war sie wieder zu.
Nun stieg auch das Herzle mit dem Fackelträger herauf. Sie brach beim Anblick der
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