040 - Die Tochter der Hexe
unendlich einsam gewesen sein. Ein Zweifler unter Gläubigen. Furcht und Hoffnung und Ohnmacht sprachen aus den Zeilen, wo immer man es aufschlug. Nicht nur der Inhalt, auch die Schrift spiegelte die innere Zerrissenheit wider – sie war zittrig und eckig, und da waren verschwommene Flecken auf vielen Seiten, die Tränen sein mochten.
Die ersten Eintragungen stammten vom Mai 1960. Da schien alles Unheil seinen Anfang genommen zu haben.
Wilmas 14. Geburtstag.
Noch ist sie rein wie ein Engel, unbeschmutzt von den alten Mächten, die in uns lebendig sind. Wenn es einen Gott gibt, wird er sie vor dieser Fäulnis bewahren. Es gibt nur einen Weg: sie muß fort aus diesem verfluchten Ort, bevor die Wahrheit ans Licht kommt.
Ich werde sie nicht einweihen, auch wenn ich dafür büßen muß! Vielleicht werden sie mich töten, denn ich habe das Gesetz der Brut verletzt. Und ich werde es wieder verletzen. Auch Gisela soll frei sein!
Und einige Tage später:
Es ist geschehen. Sie wissen es alle, daß meine Kinder anders sein werden. Die ersten seit vielen hundert Jahren. Noch sind sie machtlos. Die Tamil rast. Aber nichts ist ihr so heilig wie die alten Gesetze. Nur die fleischlichen Eltern dürfen die Kinder weihen. Sie werden versuchen mich zu zwingen!
Und wieder einige Tage später:
Sie meiden mich alle. Mich und die Kinder. Wilma sieht es mit großen Augen und versteht es nicht. Selbst die anderen Kinder tuenden sich von ihr ab. In der Schule ist es unerträglich für sie. Es vergeht kein Tag, an dem sie nichtweinend nach Hause kommt. Ich muß sie wegbringen. Das schlimmste ist, ich kann ihr keine Antworten geben. Keine, die etwas erklären.
Ich wollte, wir könnten alle fortgehen und einfach vergessen. Aber das wäre das Ende. Die Gemeinde kennt kein Verzeihen, und die Magie ist stärker als alle Vernunft. Ihr Fluch würde uns am Ende der Welt finden …
Wochen, Monate vergingen. Die Eintragungen waren kürzer, meist nur einzelne Sätze voller Zweifel. Der ganze Ort wandte sich von ihnen ab. Es gab keinen einzigen, der gefühlt hätte wie sie. Sie fragte sich, warum ausgerechnet ihr klargeworden war, wie sehr sie alle den Teufel im Herzen hatten, wie sehr sich die Gemüter der Kinder mit einem Schlag verdüsterten nach der Weihe; wie sehr das Lachen in ihren Augen erlosch. Sie fragte sich, wozu das alles diente, wozu diese alten Mächte und Gesetze um jeden Preis erhalten werden mußten. War die moderne Welt nicht voller neuer Kräfte – reinerer Kräfte, für die man nicht mit seiner ganzen Seele bezahlte?
Dann wieder zweifelte sie, ob es richtig gewesen war, damit zu brechen. Denn auch so hatten ihre Kinder das Lachen verlernt.
Und es sah nicht so aus, als ob sie davon frei sein würden, auch wenn sie nichts davon wußten.
Es war eine Art von Zauberei, die mit einem alten Kult zusammenhing, soviel wurde mir während des Lesens klar. Sie waren alle Hexen! Männer, Frauen, Kinder – der ganze Ort. Sie waren eine verschworene Gemeinschaft, in die man nur hineingeboren werden konnte, und aus der es kein Austreten gab, keine Flucht.
Wie es geschehen konnte, daß diese Frau Kurtz als einzige seit Generationen plötzlich von dem Gedanken beseelt war, daß es unrein und teuflisch sei. was sie taten, ging aus den Aufzeichnungen nicht hervor. Vielleicht hing es mit ihrem Mann zusammen, den sie ein paarmal erwähnte, und der kurz nach dem Krieg umgekommen sein mußte.
Es war faszinierend. Wie gelang es dem Ort, so lange seine Abgeschlossenheit zu bewahren? Gewiß, er lag ein wenig abgelegen in dem sumpfigen Seitental. Es gab nur eine schmale Zufahrtstraße. Grundstücke wurden nicht an Fremde verkauft, und die Bauern der weiteren Umgebung waren sicher abergläubisch und eingeschüchtert genug, um den Bernheimern nicht in die Quere zu kommen. Andererseits bot das Tal auch keine besonderen Reize für Ansiedler.
Wenn ihre Magie tatsächlich so potent war, wie die alte Dame befürchtet hatte, oder vielmehr gewußt hatte. dann war sie wohl auch ein Mittel gewesen, die Menschen unter Druck zu setzen und den Status quo aufrecht zu halten.
Genaue Aussagen über die Art von Zauberei und die Art von Kult waren nirgends zu finden. In dieser Hinsicht war das Buch wenig aufschlußreich; alles, was es bot, war ein Motiv für einen möglichen Mord an Frau Kurtz – wenn es einen gegeben hatte. Diese seltsame Verbrennung, die ich gesehen hatte, mochte eine Illusion gewesen sein – oder tatsächlich ein
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