040 - Die Tochter der Hexe
ein wenig von dem, was ich leide, heimzahlen!
Wieder verging Zeit, ohne daß etwas Wesentliches geschah. Die Wunden vernarbten. Der Haß wuchs und verdrängte langsam die Furcht und den Schmerz, selbst das Gefühl der Ohnmacht. Die alte Dame wußte, daß die Bernheimer nur lauerten, bis sie den nächsten Schritt gegen ihre Gesetze tat. Das Moor war ein großes, bequemes Grab, das nicht einmal einer Schaufel bedurfte.
Sie schwieg. Gisela erfuhr nichts. Sie war so jung. Es blieb noch ein wenig Zeit.
Frau Kurtz beschloß, sie zu nützen. Sie wußte von einem geheimen Klub hier in der Stadt, der sich mit alten Kulten beschäftigte. Den Bernheimern war dieser Klub wohlbekannt, der Klub hingegen hatte offenbar keine Ahnung davon, daß sich ein lebendiges Studienobjekt in Bernheim befand.
Frau Kurtz war entschlossen, diesen Klub aufzusuchen. Durch ihn mochte sie die Mittel erhalten, die sie brauchte, vielleicht eines der Bücher, in denen die alten Formeln standen.
Tatsächlich gelang es ihr, Kontakt aufzunehmen. Sie fuhr häufiger in die Stadt ohne daß die Bernheimer in irgendeiner Weise reagierten. Sie fragte sich, ob man sie nicht beobachtete. Es schien ihr erst unwahrscheinlich, aber schließlich akzeptierte sie ihre scheinbare Freiheit. Sie wußte ja, daß sie selbst niemals frei sein würde. Die Macht der Tamil und damit der Bernheimer über sie hatte im Augenblick ihrer Weihe begonnen, als die Priesterinnen etwas von ihr nahmen, wie sie sich ausdrückte.
Ich verstand nicht ganz, was es bedeutete. Aber es mußte etwas sein, das den anderen Macht über sie gab, eine Macht, die überallhin reichte, selbst über den Tod hinaus!
Das war verwirrend. Es mutete an wie die abergläubischen Ängste eines kleinen Mädchens, und doch lag ein Ernst in diesen Zeilen, der mich bestürzte. Es war auch bedeutungslos, wieviel ich davon glaubte! Sie hatte es jedenfalls geglaubt. Aber so ganz beruhigend war das auch nicht. Denn Wilma hatte es nicht geglaubt, präziser gesagt, sie hatte nichts gewußt, und war trotzdem daran zugrunde gegangen.
Ich hatte so ein Gefühl, daß ich bereits zuviel wußte – mehr als gesund für mich war. Es gab jetzt kein Umkehren mehr.
Immer wieder erwähnte sie in der folgenden Zeit das Buch von Hannes Dietmann Beschwörende Worte. Es mußte so etwas wie ein Schlüsselwerk sein für ihren Kult, oder besser: für den Bernheimer Kult.
Der Klub besaß das Buch nicht. Man versprach ihr jedoch, alles zu tun, um es zu erlangen. Aber alles zog sich in die Länge. Um den Grund ihrer häufigen Anwesenheit, in der Stadt zu tarnen, pachtete sie den Buchladen, nachdem der vorige Pächter ihn überraschend aufgeben mußte. Während dieser Zeit befand sich Gisela wochentags in Rosenheim und kam ebenso wie ihre Mutter nur am Wochenende nach Bernheim.
Zwei Monate vor ihrem Tod – ich zweifelte inzwischen nicht mehr daran, daß ich wirklich ihren Tod miterlebt hatte – schien sie das Buch aufgetrieben zu haben. Sie erwähnte es nicht direkt, aber alles deutete darauf hin. Sie schrieb zum Beispiel:
Jetzt ist meine Zeit gekommen. Gisela werden sie mir nicht mehr wegnehmen! Wilma wird es mir verzeihen, wenn ich sie zu Hilfe rufe. Aber Gisela braucht einen Schutzgeist.
Mir lief es kalt über den Rücken hinab. Frau Kurtz selbst hatte also Wilma beschworen, oder Wilmas Geist oder wie immer man die Erscheinung der Toten bezeichnen mochte! Aus dem Jenseits gerufen! Aller physikalischen und logischen und wissenschaftlichen Gesetze zum Trotz.
Das Grab war also noch nicht das Ende!
Die letzte Aufzeichnung lag fünf Tage zurück:
Es ist beinah vollbracht. Ich fühle, daß Wilma mich hört. Sie wird meinem Ruf folgen. Sie wird es ganz sicher tun! Wenn sie mir nur noch ein wenig Zeit lassen!
Dann mußte es geschehen sein. Das Dorf hatte zugeschlagen, daran hegte ich keinen Zweifel. Und es war Frau Kurtz noch gelungen. Wilma zu beschwören. Aber wahrscheinlich erlebte sie diesen Triumph nicht mehr, denn Wilma wußte nicht, warum sie hier war, und nicht, wer sie gerufen hatte. Sie wußte nur, daß ihre Mutter tot war und daß Gisela in großer Gefahr schwebte.
Ich saß eine ganze Weile gedankenschwer da. Gis schlief noch immer. Mein Kaffee war kalt geworden, und ich kochte mir neuen. Hunger machte sich bemerkbar. Ich verließ kurz das Haus, um ein umfangreicheres Frühstück zu besorgen. Aus meinem Hunger wurde ein Bärenhunger. Ich war ziemlich sicher, daß es auch Gis nicht viel anders gehen
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